Vortrag / Rede Symposium: Inszenierung und Vergegenwärtigung

Ästhetische und religiöse Erfahrung heute

Termin
25.07.1997

Veranstaltungsort
München, Deutschland

Künstler folgen Gott

Für die Epoche der italienischen Renaissance lassen sich einige Beispiele für das neue Bewußtsein der Künstler ausmachen. Der Maler und Bildhauer Pisanello (1395-1450) etwa gab als Berufsbezeichnung skandalöserweise den Begriff zoographos (zoon= Lebewesen, graphein= schreiben, gestalten, Form geben) an. Er faßte sich in Analogie zum christlichen Schöpfergott und zur gebärenden Mutter als jemand auf, der durch Gestaltung etwas Lebendes in die Welt bringt. Somit erhob er keinen geringeren Anspruch, als den, lebenschaffend zu sein und löste eine Diskussion darüber aus, was denn das vom Menschen als Künstler Geschaffene von dem unterscheidet, was Menschen als Handwerker oder als Wirkende in der Imitatio Christi geschaffen haben. Der letzte Künstler diesseits der Alpen, der sich in der Imitatio Christi dargestellt hat, war Albrecht Dürer mit seinem rund 60 Jahre nach Pisanello entstandenen Selbstbildnis.
Diese Legitimation des eigenen Wirkens und Handelns in der Nachfolge Christi löste einen ebenso großen Skandal aus, wie die Behauptung Pisanellos, als Künstler gebärend zu sein, wie Gott eine lebendige Welt zu schaffen.
Die Auseinandersetzung über diese Standpunkte wurde etwa 100 Jahre lang in Theorie und Praxis geführt; sie lief darauf hinaus, daß man nicht mehr nur die Ambition des Künstlers, lebenschaffend zu sein oder sich durch die Nachfolge Christi zu legitimieren, in Rechnung stellte, sondern man erkannte, daß sich die Wirksamkeit eines Werkes durch den Betrachter realisiert. Ab dem 16. Jahrhundert verlagerte sich die Debatte von den Ansprüchen der Künstler auf die Verantwortlichkeit des Betrachters für das, was die Wirksamkeit eines Werkes ausmacht, und zwar unabhängig davon, was es als gestaltete Zeichenfiguration, als Farbe auf Leinwand, als Form aus Stein oder Holz darstellte. Wenn es nämlich einem Pisanello nur darum gegangen wäre, toter Materie den Lebensatem einzuhauchen, hätte man dies als primitiven, animistischen Götzendienst verurteilen und innerhalb eines theologischen Kontextes selbstverständlich ahnden müssen. Erst recht aber hätte man in der kunstphilosophischen Diskussion, wie sie in Florenz nach dem Zusammenbruch Ostroms durch die immigrierenden Gelehrten seit den 1430er Jahren initiiert wurde, einen solchen ambitiösen Anspruch als äußerst anstößig empfunden. Die Unhaltbarkeit dieser Attitüde wäre leicht zu demonstrieren gewesen, wie es eine Michelangelo-Anekdote vorführt: nach Vollendung des David schlug der Meister der Skulptur – bis heute sichtbar – mit dem Meißel ans Knie und schrie dabei "warum sprichst du nicht, du Hund?!"
Michelangelo hatte am David alles so gestaltet, wie es bei einem lebenden Menschen beschaffen ist: Anatomie des Körpers, Bewegungsimpulse, das Verhältnis von Bindegewebe und Muskulatur, Ausdruck von Vitalität und Vigilanz – aber David sprach nicht, und er bewegte sich nicht, außer in der Betrachtung des Publikums.
Es stellte sich also heraus, daß die eigentlichen Realisatoren des "Lebens", der Wirkung eines Werkes die Betrachter sind – als Applaudierer, als Spender oder Käufer. Das Werk selbst ist totes Material, der Begriff des Schöpferischen blieb jedoch in der kunsttheoretischen Debatte erhalten, obwohl man erkannt hatte, daß das künstlerische Gelingen weder durch das Leben eines Christenmenschen in der Nachfolge Jesu noch durch die In-Anspruchnahme schöpfergottanaloger Kräfte legitimierbar ist.
Noch heute werden schöpferisch und innovativ geradezu synonym verwendet – schon Carl Schmitt hatte die theoretischen Begriffsraster der Politikwissenschaften und der Ökonomie als säkulariserte Theologie nachgewiesen, d.h. fast jeder zentrale Begriff in der Kunst, in der Politik oder in der Wirtschaft stammt aus der Theologie.