Buch Musealisierung als Zivilisationsstrategie

Arbeitsheft zum Symposium „Musealisierung als Zivilisationsstrategie“, das am 24. November 2009 stattfand.

Musealisierung als Zivilisationsstrategie, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte. + 6 Bilder
Musealisierung als Zivilisationsstrategie, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte.

Was ist ein Produzent ohne den urteilsfähigen Konsumenten, was vermag der Arzt ohne einen therapietreuen Patienten, was der Künstlerohne einen verständnisfähigen Betracter und Zuhörer, was richtet der Politiker aus ohne einen kritikfähigen Wähler, was nutzt die Predigt, wenn sie nur auf tumbe-taube Ohren stößt?

Durch Wissen klagend - 

durch Klagen leidend - 

durch Leiden wissend

Agnosce, dole, emenda

Erschienen
2008

Herausgeber
Brock, Bazon | Bauer, Christian

Verlag
Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften (VDG)

Erscheinungsort
Weimar, Deutschland

ISBN
9783897396746

Umfang
1. Aufl. 2009, 120 Seiten, 3 Abb. s/w

Einband
Broschur

Seite 44 im Original

Werner Hofmann: Die Entmündigung der Kunst findet im Museum statt

Hegel ist immer ein guter Anfang. Etwa folgendes Zitat: „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“

Ich bestreite das. Katharina Fritsch beschickt ihre jüngste Ausstellung in Hamburg mit einem Auflagenobjekt, einer Madonna à la Saint Sulpice von 1982, die pro Stück 980 Euro kostet. Wie sollen wir uns verhalten? Kniefall oder Scheckbuch? Im sanft-glatten Erbauungsbild lebt eine Entscheidung (sprich kunstpolitische Doktrin) weiter, die das Verhältnis Kunst – Religion seit dem Mittelalter belastet. Als Bernard von Clairvaux die wüsten Fabelwesen aus den Kirchen und Kreuzgängen entfernen wollte, weil sie bloß die Augenbegierde (concupiscentia oculorum) erregen und vom Glaubensakt ablenken, plädierte er für eine Reinigung, an deren Ende die Madonna von Lourdes steht, der die Gestalt von Katharina Fritsch nachempfunden scheint. Bernard möchte das Vernunftwidrige, also das Phantastische, Häßliche und Abstruse aus der Praxis der religiösen Bilder ausgrenzen.

Doch die beckmesserische Beschränkung auf das jedermann verständliche genormte Schöne, auf Ratio und Regelmaß vermochte sich nicht durchzusetzen. Hegel kommt in der „Philosophie der Geschichte“ zu dem Schluß: „so findet die Art Religion im Verhältnis zum Schönen nicht ihre Befriedigung, sondern für eine solche sind ganz schlechte, häßliche, platte Darstellungen das ebenso Zweckmäßige oder das vielmehr Zweckmäßigere. Wie man denn auch sagt, daß die wahrhaften Kunstwerke, z.B. Raphaels Madonnenbilder, nicht die Verehrung genießen, nicht die Menge von Gaben empfangen, als vielmehr die schlechten Bilder vornehmlich aufgesucht werden und Gegenstand der größeren Andacht und Freigebigkeit sind …“ Mit anderen Worten: „So ist die Kunst schon aus dem Prinzip der Kirche herausgetreten“, denn „die Frömmigkeit [begnügt sich] mit schlechten Bildern und verehrt in dem gesudeltesten Konterfei immer noch Christus, Maria oder irgendeinen Heiligen …“ (Ästhetik, S. 665).

Als Luther die Kunst zu den Adiaphora zählte („man kann sie haben oder auch nicht“), schob er sie in ein Abseits der Beliebigkeit ab, das letztlich nur in moralisch-ästhetischen Qualitäten seine Rechtfertigung hat: Er machte sie zu einem didaktischen Instrument, das seine Lehre den Gläubigen veranschaulichen sollte. Die Kunstwerke sollen den Verstand unterrichten und keinen Augenlüsten dienen. Dieser Abkehr von der mittelalterlichen Bildpraxis hat Burckhardt die Verlustrechnung aufgemacht: „Die Religion ist gereinigt … sie sollte auf einmal mit einem mächtigen Vermögen des Menschen, mit der Phantasie, als einer rein sündlichen und weltlichen, irreführenden Potenz nichts mehr zu tun haben und sich dafür ,verinnerlichen‘.“ Da kommt wieder die Phantasieabstinenz des hl. Bernard ins Spiel. Sie wird vom protestantischen Lehrbild (das die Wortverkündigung bloß illustriert) ebenso befolgt wie im Lager der Gegenreformation, wo Bilder Überzeugungsarbeit zu leisten haben – also beide Male Aufklärung avant la lettre.

Die Geschmacksvorschriften des Konzils von Trient (Kardinal Paleotti) verlangen eine verständliche Kunst, die auf intellektuellen Eigensinn ebenso wie auf subjektiv phantastische Einfälle verzichtet. Diese Richtlinien gehören zur Vorgeschichte des Kunstbegriffs, auf den sich das Museum zurückziehen wird. Er basiert auf dem Regel- und Normenkanon der Neuzeit (Zentralperspektive, Proportionslehre), also auf dem vernünftigen Nenner der Verständlichkeit, der sich letztlich eine Kunst ad usum Delphini wünscht.

Bietet dieser amputierte Kunstbegriff ausreichenden Stoff, um eine „Wissenschaft von der Kunst“ (Hegel) im Museum stattfinden zu lassen? Ist der akademische Kanon, sind die sogenannten Schönen Künste repräsentativ für die Weite und Tiefe, für die komplexen (magischen) Wirkungsmächte der künstlerischen Weltveränderung?
Rechtzeitig fand Kant, parallel zu den öffentlichen Gemäldegalerien, das „interesselose Wohlgefallen“, jenes Neutrum, mit dem der Rückzug der Künste aus ihren diversen Wirkungssphären ästhetisch drapiert wurde.

Die Entmündigung wurde von Zweckfreiheit legitimiert.

Zweckfreie Kunst konnte sich aber nur im Museum entfalten. Mit anderen Worten: Als Korrelat der ästhetizistischen Einstellung wurde das Kunstmuseum zur „ästhetischen Kirche“ (Schrade), zum Ort der Weihe, der den aufrechten Gang wieder in eine Andachtshaltung zurückbog: Der Formalismus hatte seinen sakralen Veranstaltungsort. Auf die Kunst, die der Religion gehört, folgte die Religion der Kunst, deren Andacht unter dem „Lampenlicht des Privaten“ (Marx) erfolgt.

Seit es das Kunstmuseum gibt, ist es für seine künstlerischen Zeitgenossen ein Ärgernis, das entweder reformiert oder abgeschafft gehört. Zugleich kokettiert der Künstler mit der musealen Plattform, um sich als Märtyrer-Messias in Szene zu setzen. Dem Vorwurf der Entmündigung (der den Goldenen Käfig impliziert) begegnen die Museen, indem sie die Praxis des „anything goes“ anwenden und Spielwiesen der unterhaltsamen Unverbindlichkeit anbieten. Warum auch nicht? Ich habe immer für Transitorien plädiert, in denen E- und U-Kunst einander begegnen. Auf dieser Plattform könnte sich ein offener Bildbegriff entwickeln, der die überholten Aporien von freier und angewandter Kunst hinter sich ließe.

„O Gott, speit niemand aus vor dieser erlesenen Kultur!“, fragte Max Brod 1913 in einem Essay, der von der Schönheit häßlicher Bilder handelte. Mit diesem Paradoxon leben wir bis heute. Es enthält die Elemente eines Bilderstreits, den bereits Hegel problematisierte: Wie kommt es, daß häßliche („schlechte“) Bilder mehr Verehrung genießen als jene, die ästhetischen oder anderen Normen gehorchen?
Kommt hier nicht wieder die fatale Phantasieabstinenz ins Spiel, deren Vertreter das Urinoir von Duchamp ablehnen, obwohl es doch (was früher erkannt wurde) eine Art von Buddha-Nische darstellt, die auf einen Deus absconditus wartet …. Angst vor der sich selbst überlassenen Phantasie ist auch heute noch in den Thesen eines Sedlmayr und seines Gewährsmannes Kardinal Döpfner zu spüren, wenn sie sich für die Austreibung des Teuflischen aus der gegenwärtigen Kunst einsetzen.

Neben solchen Ängsten wirkt säkularisierend die Kommerzialisierung. Sie vollendet auf ihre Art die totale Bemächtigung der Wirklichkeit durch den Kunstgestus, dessen Schauplatz das Museum ist. Heute heißt es nicht mehr Alles ist Kunst, sondern Alles ist Ware (Karl Kraus). Wir sind wieder bei Katharina Fritsch angelangt.

Wo findet in diesem Klima der permissiveness noch die Auseinandersetzung mit der kongenitalen Mehrsinnigkeit des Kunstwerks statt? Wo ist diese Frag-Würdigkeit (man beachte den Bindestrich!) heute noch gefragt bzw. ein Thema? Wo hat das Kunstwerk noch den Freiraum, „weder so noch so“ sein zu dürfen?