Diskussion St. Moritz Art Masters

Chesa Planta
Fundaziun de Planta Samedan
Mulins 2
7503 Samedan/Schweiz
Link: http://www.stmoritzartmasters.com/talks/vortraege/samstag-270811.html

Pressestimmen

„Am nächsten Tag dann das Gespräch (besser: zwei alternierende Monologe) zwischen dem Performancephilosophen Bazon Brock und dem Kunstdiktator Jonathan Meese im Museum Chesa Planta in Samedan, gut erreichbar mit dem Shuttleservice eines Luxusautomobilherstellers. Meeses Mutter, auf meesianisch auch ›Erzmami‹ genannt, ist ebenfalls anwesend. Und es muss schon mal rundheraus gesagt werden, allen professionellen Meesehassern zum Trotz: Meese ist zweifelsfrei der größte Künstler unserer Zeit, insofern er tatsächlich nur Kunst ist und sonst gar nichts. Wenn er Sätze wie ›Der Mond will nur von der Sachlage belästigt werden!‹ oder ›Schlaf ist versachlichte Führung!‹ ins hellhörige Engadin bellt, dann wird intuitiv klar, was die von ihm propagierte Diktatur der Kunst bedeutet: die Nichtung des Nichtigen durch die Nichtigkeit. Brock hat das längst durchschaut und ihre Kompatibilität mit seiner Vision einer ›Ästhetik des Unterlassens‹ festgestellt, weshalb er mit Vehemenz und ja, mit Recht, seine schöne These wiederholt: ›Die bedeutendste Entwicklung der Müllabfuhr ist das Kunstsystem.‹”

(Aus: Jörg Scheller: St. Moritz Art Masters. Glücklichsein ist teuer, artnet, 2.09.2011, Quelle: http://www.artnet.de/magazine/st-moritz-art-masters/)

„Das Leben in seiner ganzen verrückten Fülle – vor allem in der Fülle! – zu bejahen, ist auch der eigentliche und einzige klar erkennbare Kerngedanke des Art Masters. Hier geht schlichtweg alles zusammen. Zum Beispiel nonchalante Werbung für Edelmarken und Finanzdienstleister mit der Gesellschaftskritik des Schweizer Künstlers Jules Spinatsch, der vor dem Kempinski-Hotel ein Panorama aus Überwachungskamera-Bildern ausstellt, aufgenommen am Wiener Opernball.
Oder das schrille Gespräch zwischen Jonathan Meese und dem Wuppertaler Performance-Philosophen Bazon Brock im gediegenen Interieur des Wohnkulturmuseums Chesa Planta in Samedan, gut erreichbar mit dem Shuttle eines Luxuskarossenherstellers.
Während Meese in einer Litanei deklamiert die Herrschaft des Menschen müsse enden und die Herrschaft der Kunst endlich beginnen, hat Brock eine schlüssige Definition des Kunstsystems anzubieten: „Die bedeutendste Entwicklung der Müllabfuhr.“ Meese sei der beste Beweis dafür. Als treue Ameise der
Kunst entsorge er in seinem Werk rührend den Abfall der Gegenwart – „die Evolution erzeugt so viel Auswurf wie sie Erfolg erzeugt“.
Der Mannheimer Literaturprofessor Jochen Hörisch sitzt in der ersten Reihe. Er scheint hin- und hergerissen zwischen Lachen und Leiden, hinter einer Tür lugt amüsiert der Unternehmensberater und ehemalige Schnapshändler Roland Berger, der im Engadin eine standesgemäße Residenz unterhält.
Brock verfügt ebenfalls über einen Zweitwohnsitz in der Gegend und ist gerngesehener Dauergast beim Art Masters. Er hat selbst Aktionen wie das „Samposion“ (2010) dirigiert, findet zwar nicht alles gut, was hier so passiert, aber der Arzt sucht ja auch nicht den Gesunden, sondern den Kranken auf. Als jedoch der Künstler Ferran Martin in der Eröffnungsnacht seine „Fire Sculpture“ vor dem Waldhaus-Hotel abfackelt, sitzt Brock bei einem Wodka Sour im schräg gegenüber liegenden Kulm-Hotel, wendet dem Funkenflug vor der Fensterfront den Rücken zu und meint, als Kriegskind habe er nun wirklich genug Explosionen gesehen.”

(Aus: Jörg Scheller: Sensationen, Sensationen. Dekadenter geht’s nimmer: Das heute endende St. Moritz ArtMasters ist nichts für Kulturpessimisten und Rolls-Royce-Hasser. Ein Resumee. Sonntag Aktuell, 4.09.2011, S. 12)

Termin
27.08.2011, 14:00 Uhr

Veranstaltungsort
Samedan, Schweiz

Veranstalter
St. Moritz Art Masters

Einleitung von Thomas Zacharias

O Mensch! Gieb acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!" ∞
Friedrich Wilhelm Nietzsche
15. Oktober 1844 – 25. August 1900

Jasager und Keinsager – ohne Meinsager: Präliminarien zu einem Nachmittag mit Bazon Brock und Jonathan Meese in der Chesa Planta

[St. Moritz Artmasters ‚Artists Talkʼ, 27. August 2011, 12:00 Uhr, Samedan]

In einer unter zahlreichen Aspekten bemerkenswerten ‚Heimsuchungʼ durch den Geist Jacques Derridas bearbeitete Peter Sloterdijk das ‚Problem der jüdischen Pyramideʼ (1), indem er ein Pantheon europäischer Geistesgrössen – Niklas Luhmann, Sigmund Freud, Thomas Mann, Franz Borkenau, Régis Debray, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Boris Groys – in seine konstellativen Bezüge zu Jacques Derrida stellt. Peter Sloterdijk gewährt in diesem Reigen Niklas Luhmann den Vortritt, belässt es aber selbstverständlich nicht bei dieser auktorialen Setzung, sondern streut eine subtile Begründung ein, welche – wohl auf Grund der leichtfüssigen Eleganz ihrer komplexen Formulierung – in der Erinnerung haften blieb:

„Es wäre selbstverständlich völlig sinnlos, Derrida und Luhmann auf ihre jeweils eigentümliche Hegelianität untersuchen zu wollen. Auch waren beide keineswegs Denker des Sonntags, vielmehr, ganz im Gegenteil, unentwegte Arbeiter, die den Sonntag zum Werktag machten, buchstäblich und aus prinzipiellen Gründen, und ansonsten überzeugt waren, an Feiertagen erledige man private Post oder schweige. Was festzuhalten bleibt, ist die Tatsache, dass beide Denker Vollendungsarbeiter gewesen sind, die unter dem Anschein der Innovation Abschlüsse und letzte Retouchen am fertigen Bild einer nicht dehnbaren Überlieferung ausgeführt haben.“ (2)

Im taghellen Bewusstsein, mit der Wahl dieser Eröffnung in einem – hoffentlich nur vorläufigen – Rätsel zu sprechen, sei trotzdem eine zweite Volte im Sog der Kondensstreifen Sloterdijkscher Gedankenflugbahnen gestattet, um damit gleichzeitig die berechtigte Frage nach einer Relevanz dieser ‚Ouvertureʼ zu beantworten: Am 13. Juli 2006 hielt Peter Sloterdijk im Münchner Haus der Kunst eine Laudatio auf Bazon Brock aus Anlass seines 70. Geburtstages. Auch für diesen Parcours wählte Peter Sloterdijk die Technik der Konstellationsbetrachtung, stellte das ‚Phänomen Bazon Brockʼ in Bezüge zu Marcel Duchamp, Salvador Dalí, Joseph Beuys und Friedrich Nietzsche – und schloss mit folgender direkter Rede an den Jubilar seine Überlegungen ab:

„Lieber Bazon Brock, Sie müssen es aushalten, wenn ich Ihnen sage, Sie sind der redlichste Mensch unserer Zeit. Wir alle, denke ich, verstehen das Wort ‚redlichʼ mit der Fülle des Klangs, die es trägt, seit Nietzsche gelehrt hat, die intellektuelle Redlichkeit als die höchste der Tugenden zu schätzen.“ (3)

Hoffentlich wird Bazon Brock es aushalten, wenn Peter Sloterdijks Laudatio an dieser Stelle auch aus Anlass seines vor wenigen Wochen vollendeten 75. Lebensjahres re-zitiert wird. Denn die Einfügung der ‚Meesitzer Dionysienʼ zwischen zwei bedeutendste Anniversarien – den Todestag Nietzsches am 25. August und den Geburtstag Goethes am 28. August – sensibilisiert für Jahrestage und Jubiläen. Erweitern liesse sich diese Liste noch um den Hinweis auf die Geburtstage Peggy Guggenheims am 26. August und Georg Wilhelm Friedrich Hegels am 27. August. Trotz dieser assoziationsträchtigen Konstellation belasse ich es bei der Bitte um Verständnis für den Impuls, in dieser Einführung zur heutigen Veranstaltung Bazon Brock den Vortritt gewährt zu haben. Der Sloterdijkschen Kategorisierung von Bazon Brock als ‚redlichsten Menschen unserer Zeitʼ muss nichts hinzugefügt werden. Sogar der Hinweis wirkt obsolet, der ‚redlichste Mensch unserer Zeitʼ sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein ‚Sonntagsdenkerʼ, sondern als ‚Architekt der Zivilisationʼ ein unermüdlicher und alltags- wie altersradikaler ‚Jasagerʼ.

Vor fünf Jahren resümierte Cornelius Tittel in einem ‚Familiengesprächʼ mit Brigitte und Jonathan Meese für die Zürcher Weltwoche (4), Jonathan Meese sei ‚radikal schon vor dem Zähneputzenʼ. Tittel: „Sie sind Millionär und werden weltweit als Star gefeiert. So schlimm kann Ihr Leben nicht sein.“ Meese: „Doch, das ist es. Meine Lebensqualität ist gleich null. Ich habe immer diese Spinnereien im Kopf. Diese zwei Begriffe, um die sich alles dreht. Am liebsten würde ich das abstellen, aber es geht nicht. Ich bin der beschränkteste Künstler der Welt. Wenn ich morgens aufwache, kommt sofort das Wort ‚Totalitätʼ, sofort. Der Zweifel: Bin ich total genug, bin ich noch fähig, eine Revolution zu starten, oder bin ich schon gekauft, bin ich schon so bestochen worden, kann ich das noch rechtfertigen, würde ich, wenn die Revolution stattfindet, der Erste sein, der des Verrats bezichtigt wird, und würde ich dann sofort von den Revolutionären vernichtet werden?“ Tittel: „Das denken Sie schon vor dem Zähneputzen?“ Meese: „Ja, das ist immer da, immer. Das ist doch eine Qual, so denken zu müssen. Ein Leben ist das nicht.“

Der ‚protestantische Ekstatikerʼ (5) Jonathan Meese führt also kein Leben als ‚Sonntagsmalerʼ, geniesst eben keine ‚Rousseauschen Tagträumereienʼ (6) zur Vertiefung seiner individuellen Selbstwahrnehmung, und er zelebriert auch keine bohèmehaften Attitüden zeitgeistiger Selbstverwirklichung. Jonathan Meese wählt die anstrengende Technik nahezu konsequenter ‚Keinsagereiʼ:

„Kunst ist kein Kult, keine Esoterik, kein Seelentum, kein Seelenfang, keine Vergeistigung, kein Ichmönchstum, kein Niederknien, kein Beten. Kunst ist keinerlei Unterwürfigkeitsgestik, keinerlei Menschennostalgie, kein Seperatismus, kein Individualismusrennen, kein Massennabelschauismus, kein Okkultismus, keinerlei Reflexion, und keine Definitionsfetischismuswahnvorstellung.“ (7)

Diese ‚Dekonstruktion’ übermittelte Jonathan Meese im Oktober 2010 als ‚Paragraph 15’ in einem 13-minütigen ‚Propagandavideo’ und ‚Grusswort’ an die Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Der kontextspezifischen Vollständigkeit halber darf daran erinnert werden, dass Bazon Brock im September 2010 in der ‚Sankt Moritzer Scala für Theoriebelcanto’ ein ‚Samposion’ zur Frage ‚Kunst oder Kult?’ durchführen konnte.

Harald Falckenberg war für die auf das heutige Datum angedachte Premiere eines ‚bruitistischen Krippenspieles’ (8) mit dem Titel ‚G3-Gipfel zur Vereinigung von Genie, Geist und Geld’ als unverzichtbarer Mitspieler in der Rolle des ‚Meinsagers’ vorgesehen. Höchst bedauerlicherweise fordern auch die Turbolenzen der Geldmärkte seine Anwesenheit in Hamburg. Sein Stuhl wird in Ermangelung adäquaten Ersatzes frei bleiben müssen. Harald Falckenberg ist unersetzlich, weil er nicht als ‚Sonntagssammler’ und ‚mit dem Rücken zur Kunst’ (9) promeniert, sondern mit ‚den Augen zum Werk’ im ‚Maschinenraum der Kunst’ (10) selber Hand und komplexe Texte (11) anlegt. In seinen Hallen unter dem emblematischen Zeichen des ‚Phoenix’ bewährt sich der ‚Meinsager’ Harald Falckenberg im ’Dialog mit der Jugend’ (12) als Partner auf gleicher Augenhöhe – und übt sich gelegentlich zur ‚letzten Lockerung’ (13) in ‚Selbstjustiz durch Fehleinkäufe’ (12).

Abschliessend bleibt die allzu gern erfüllte Pflicht, den St. Moritz Art Masters oder kurz SAM für ihre hell- und weitsichtigen Initiativen zu danken. Als ‚pars pro toto’ sei an dieser Stelle aus zeitökonomischen Gründen nur Reiner Opoku unter Einschluss aller weiteren involvierten guten Geister erwähnt – und ein Hinweis auf das Anagramm zum Kürzel SAM erlaubt: Im ‚Vittoriale degli Italiani’ in Gardone übersetzte Gabriele D’Annuzio das Kürzel MAS des musealisierten ‚Motoscafo Anti Sommergibile 96ʼ in ‚Memento Audere Semperʼ. (14)

In diesem Sinne gilt der Dank auch dem heutigen Publikum. Ein besonderer Dank gebührt den durch die Qualen ihrer bewussten Entscheidung nobilitierten Anwesenden, welche nicht dem in der Zuozer Mehrzweckhalle unter dem Label E.A.T. als ‚Parallelaktionʼ (15) dargebotenen ‚Stück in verschiedensten Aufzügenʼ, sondern diesem ‚kleinen Kammerspielʼ mit Bazon Brock und Jonathan Meese in der Samedener Chesa Planta die Ehre ihrer Aufmerksamkeit erweisen. Der Worte sind nun genug gewechselt - wollen Sie endlich auch Thaten sehn? Die Aufforderung geht also an den ‚radikalsten Künstler Deutschlands’ und an den ‚redlichsten Mann mit Mission’: „So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, / Und fahret mit bedächt’ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ (16)

Thomas Zacharias
[M.o.M. (15) der Brockschen Sterbekasse ‚Gute Nachredeʼ (17)]

"Was ich besitze sehʼ ich wie im Weiten,
Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten." (18)
Johann Wolfgang Goethe
28. August 1749 – 22. März 1832

Anmerkungen:
∞ Friedrich Nietzsche, ‚Zarathustras Rundgesangʼ im ‚Nachtwandler-Liedʼ in ‚Vierter und letzter Theilʼ von ‚Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinenʼ, Privatdruck 1885
1 Peter Sloterdijk, ‚Derrida ein Ägypter – Über das Problem der jüdischen Pyramideʼ, Frankfurt a.M. 2007
2 ebenda: Seite 15
3 Peter Sloterdijk in: Bazon Brock, ‚Lustmarsch durchs Theoriegeländeʼ, Köln 2008, Seite 24
4 Cornelius Titel, ‚Radikal schon vor dem Zähneputzenʼ, Die Weltwoche Nr. 26, Zürich 2006
5 Eine Wortschöpfung von Helmut A. Müller, siehe auch www.artheon.de
6 vergleiche: Peter Sloterdijk, ‚Stress und Freiheitʼ, Frankfurt a.M. 2011 (Sonderdruck Edition Suhrkamp)
7 Jonathan Meese am 27. Oktober 2010 in seinem akustischen Grusswort an die Schirn Kunsthalle in Frankfurt a.M. zur Ausstellung ‚Weltenwandel. Die Kunst der Outsiderʼ, Transkription eines Auszuges von http://www.jonathanmeese.com/20101112_Frankfurt_Schirn_Outsider/index.html
8 Die ‚Generalprobe vor Publikumʼ wurde am 7. März 2008 im Zürcher Cabaret Voltaire dargeboten
9 Wolfgang Ullrich, ‚Mit dem Rücken zur Kunstʼ, Berlin 2000
10 Harald Falckenberg, ‚Aus dem Maschinenraum der Kunstʼ, Hamburg 2007
11 ebenda: ‚Das Phänomen Jonathan Meeseʼ (Erstdruck Kestner Gesellschaft, Hannover 2002)
12 siehe: Kippenberger, Martin
13 siehe: Serner, Walter
14 ‚Denke immer daran, etwas zu wagen!ʼ; siehe auch: http://www.dannunzioz.org/
15 siehe: Musil, Robert
16 Goethe, ‚Faustʼ, die vier letzten Verse im ‚Vorspiel auf dem Theaterʼ, Tübingen 1808
17 Bazon Brock, ‚Lustmarsch durchs Theoriegeländeʼ, Köln 2008, Seite 251
18 Goethe, ‚Faustʼ, die zwei letzten Verse der ‚Zueignungʼ, Tübingen 1808