Ausstellungskatalog Im Gehen Preußen verstehen / Ein Kulturlehrpfad der historischen Imagination

Karte der Stationen, Bild: zur Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", IDZ Berlin 1981.. + 1 Bild
Karte der Stationen, Bild: zur Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", IDZ Berlin 1981..

[im Rahmen d. Ausstellung Preussen, Versuch e. Bilanz] / Internat. Design-Zentrum Berlin e.V. [Zusammenstellung: Ulrich Giersch]

Erschienen
1980

Herausgeber
Riedemann, Kristin

Verlag
Internat. Design Zentrum

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Umfang
60 Seiten

Seite 56 im Original

Kulturlehrpfad "Lebensformen der 20er Jahre"

Nachfolgende Ausführungen schließen an das IDZ-Konzept „Lebensformen der 20er Jahre“ vom Dezember 1975 an. Das dort dargelegte Konzept wird im Hinblick auf seine Realisation wie folgt verändert: Vorgeschlagen wird die Einrichtung eines Kulturlehrpfads für die Monate Juni, Juli, August und September im Parkareal, das an die Akademie der Künste anschließt Der Kulturlehrpfad ist eine Analogiebildung zum Naturlehrpfad. Solche Naturlehrpfade gibt es in zahlreichen Naherholungsgebieten der Bundesrepublik. Spazierengehend oder wandernd können die Erholungssuchenden unterhaltsame Belehrung über den Naturbestand des Spaziergangareals aufnehmen. Es hat sich gezeigt, daß nicht nur die Unterweisung der Besucher von diesen als Zusatznutzen beim Spazierengehen bereitwillig angenommen wird, sondern daß das Spazierengehen eine aktive, ja freudige Annäherung an das natürliche Ausstellungsmaterial fördert.

Für den Kulturlehrpfad sollen diese in geschlossenen Innenraumausstellungen nicht erreichbaren Bedingungen eines Lernumfelds genutzt werden, wobei auf dem Kulturlehrpfad natürlich anstelle der Hinweise auf die Natur eine unterhaltsame Einführung in kulturelle Zeugnisse der für die Europaratsausstellung verbindlichen historischen Epoche 1918 bis 1933 angeboten wird. Es bleibt zu überlegen, ob man den Gedanken des Kulturlehrpfads popularisiert und ihn in stärkerer Anlehnung an die Trimm-Dich-Bewegung als einen „Kultur-Trimmpfad" anbietet, wobei diese Bezeichnung im Hinblick auf eine voraussetzungslosere Verständigung mit den wahrscheinlichen Benutzern gewählt werden könnte. Möglicherweise ist aber die Leistungsforderung, die mit dem Begriffskern "Trimmen" verbunden ist, zumindest für einen Teil der Besucher etwas abschreckend.

Perspektive:
Seit einigen Jahren bemühen sich städtische Gremien, den Bürgern ihre Stadt näherzubringen, indem man an Kulturdenkmalen der Stadt erklärende Hinweise (Schrifttafeln) anbringt. Dabei bleiben – den örtlichen Gegebenheiten entsprechend – die einzelnen Kulturerzeugnisse über ein großes Areal verstreut, weshalb die historisch/thematischen Zusammenhänge nur schwer anschaulich gemacht werden können. Es sei empfohlen zu überprüfen, ob nicht Kulturlehrpfade als Dauereinrichtungen angelegt werden könnten, wodurch eine historisch/kulturelle Erschließung der Stadt und ihrer Geschichte besser ausgenutzt werden könnte. Es steht zu vermuten, daß ein solcher Kulturlehrpfad bei entsprechender Realisierung auch als touristische Attraktion etabliert werden könnte. Einen nachdrücklichen Hinweis auf diese Möglichkeit bietet eine entsprechende Anlage bei Rimini.

Der Aufbau des Kulturlehrpfads steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Form seiner Benutzung – nämlich ihn zu durchwandern. Man wird also die zur Verfügung stehende Wanderstrecke in 15 gleiche Abschnitte unterteilen, die den 15 Jahreseinheiten der Epoche entsprechen. Um diese enge Verknüpfung von Rezeptionsform und Strukturierung sichtbar zu machen, wird der Kulturlehrpfad entlang eines auf dem Boden markierten Zeitstranges (Ereignisstrang) geführt; die einzelnen Jahreszahlen werden als Markierungen des Zeitlaufs sichtbar gemacht:

Materialisierung:
Die Wegstreckenmarkierungen sollten aus einem 20cm breiten weißen Kunststoffband bestehen, wenn man nicht die Möglichkeit hat, einen hölzernen Rollmattenweg von etwa 1 m Breite auszulegen. Die Meilensteine sollten die Gestalt haben, wie sie an den Straßen der damaligen Zeit üblich war; Material: 15 witterungsbeständig schwarz auf weiß beschriftete Feldsteine (ca. 40x20x20cm). Die Länge des Kulturlehrpfads ist mit ca. 1 km anzusetzen, wobei durch Mäanderbildung die Ausdehnung begrenzt werden kann. Die einzelnen, für die Unterweisung wichtigen Kulturerzeugnisse des Alltagslebens der 20er Jahre werden durch Gerüstüberbauung des Hauptstranges, durch Einlassung in Bodenvertiefungen, durch Seitenkabinette des Hauptstranges, durch Environments, die über Stichwege mit dem Hauptstrang verbunden sind, dokumentiert (Dazu im einzelnen weiter unten).

Es ist für die genußreiche Durchwanderung der Strecke sicherlich günstig, wenn die Ausstellungseinheiten nicht zu dicht aufeinander folgen, so daß einerseits die Besucher nicht durch zu langsames Fortbewegen wie in Museumsräumen ermüdet werden, andererseits sich die Gelegenheit bietet, beim Weiterwandern die jeweils zurückliegende Position zu erörtern. Didaktischer Erfahrung zufolge wird der Besucher nachdrücklich aktiviert, wenn er die Ausstellungspositionen nicht auf einmal erfassen kann, sondern sie suchend entdeckt. Desorientierung wird durch den sichtbaren Hauptstrang vermieden. Die Erfassung des Gesamtbestandes kann anhand der „Wanderkarte“ durch den Kulturlehrpfad jederzeit kontrolliert werden. Der Kulturlehrpfad wird in folgender Weise strukturiert, was bei der gegebenen Ereignisfülle unabdingbar zu sein scheint:

1. der Hauptpfad wird umsäumt von Foto- und Schrifttafeln, auf denen die Ereignisse als Daten- und Namensangaben in Erinnerung gerufen werden. Genauere Auskünfte und Darstellungen der Zusammenhänge gibt die „Wanderkarte“. Diesem „nackten“ Ereignisstrang sind

2. die eigentlichen Ausstellungseinheiten wie Inseln im Zeitstrom zugeordnet. Mit ihnen werden die Schwerpunkte gesetzt, wird die Aufmerksamkeit für das Thema geweckt.

Zur Auswahl der Exponate (vgl. auch das Dezember-Konzept): Ausgewählt werden Ereignisse und Produkte der 20er Jahre, an denen das Zeitklima (der „Zeitgeist“) besonders deutlich zum Ausdruck kommt, wobei berücksichtigt wird, daß der Zeitgeist natürlich ein ideales Konstrukt ist, das aus dem Blick zurück Entwicklungen einbezieht, die damals noch nicht deutlich und bewertbar waren. Zudem ist ein solches Zeitklima immer etwas Diffuses, das sich nur an bestimmten Zeugnissen zu sichtbaren Erscheinungsformen verdichten läßt. Das Ausstellungsgelände darf nicht überfrachtet werden. Es soll seiner Gestaltung nach im wesentlichen einprägsame optische und begriffliche Stichworte liefern, die den Besucher anreizen könnten, anhand der Texte der Wanderkarte den ersten Ein-druck zu vertiefen.

Der Ereignisstrang wird mit Daten und Namen folgender Sachgruppen ausgestattet, wobei die Auswahl im einzelnen nach Prof. Werner Steins „Kulturfahrplan“ getroffen werden sollte:
(1) Politisch-rechtliche Entwicklung
(2) Wirtschaftliche Entwicklung
(3) Technische Entwicklung
(4) Sitten und Gebräuche
(5) Kulturereignisse
a) der offiziellen Hochkultur
b) der Alltagskultur
(6) Ideologisch-weltanschauliche Entwicklungen soweit sie in der Alltagsdiskussion, also auch in der Lokalpresse zum Ausdruck kommen.
An der Auswahl dieser Daten und Namen sollten sich nach Möglichkeit viele der am Projekt interessierten Gremien beteiligen, damit Einseitigkeit vermieden wird. Anders hingegen sind die Veranschaulichungen zum Thema, die Inseln im Zeitstrom, auszuwählen; hier sollten die gestalterischen Vorstellungen, didaktisches Konzept und thematische Gewichtung einheitlich sein, also von einem Autor verantwortet werden, denn so können – analog zu anderen künstlerischen Realisierungen – Sehweise und Auffassung pointiert werden, wodurch der Ereignischarakter des Kulturlehrpfades stark erhöht werden kann.

Die Art der Exponate:
Selbstverständlich können für eine Freiluftausstellung nur Exponate gewählt werden, die als Objekte keinen Original-Wert haben. Man hat sich also mit wetterfesten Modellen und Rekonstruktionen zu begnügen. Die Beschriftungen können nur als kurzgefaßte Hinweise angebracht werden, die im wesentlichen aus Namen, Daten und einem Ordnungsbegriff bestehen. Diese Hinweise gelten in der entsprechend ausführlicheren Darstellung zu jeder Einheit in dem Wanderkartenpaket. Wünschenswert wäre es, sämtliche Exponate als Modellrekonstruktionen von Originalen anzubieten. Diese optimale Realisierung wird durch die gegebenen finanziellen Bedingungen erheblich eingeschränkt. An die Stelle der Modellrekonstruktionen muß dann ein Ausstellungsgut treten, das schon als Umsetzung von Aussagen über das zugrundeliegende originale Kulturzeugnis zu verstehen ist.

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Beispiel: Statt einer Modellrekonstruktion der ersten Fließbandproduktion von Autos wird ein präpariertes laufendes Förderband verwendet, auf dessen Laufband Fotomaterial der einzelnen originalen Montageprozesse angebracht ist. Durch die Bewegungen des Laufbandes wird so im Nacheinander der fotografischen Abfolgen der Gesamteindruck des gemeinten Prozesses hervorgerufen.

Realisierung:
Nachfolgend werden die einzelnen zu realisierenden Einheiten vorgestellt, jedoch noch nicht chronologisch zum Zeitstrang zugeordnet, weil diese Zuordnung auch wesentlich auf die Gestaltungsmöglichkeiten im Gelände Rücksicht nehmen muß, das Gelände aber noch nicht bestimmt ist (Antrag beim Gartenbauamt läuft).

Beispiel für die Abhängigkeit der chronologischen Zuordnung von der Gestaltungsmöglichkeit im Gelände: Es ist ohne genaue Kenntnis des zur Verfügung stehenden Geländes nicht zu entscheiden, ob man die Dokumentation des Modewandels durch die Jahre – der einprägsameren Vergleichsmöglichkeiten wegen – als eine Einheit realisiert oder ob man gezwungenermaßen die Modeentwicklung am Hauptstrang entlang durch jeweils 2-3 Standfiguren nach dem Modell der stilisierten Vogelscheuche illustriert. Benötigt werden in jedem Fall für diese Dokumentation des Modewandels etwa 50 körperähnliche Gerüste mit nachgeschneiderten Damen- und Herrenmoden, sowohl Festtags- wie Alltagskleidung.

Für die Kalkulation der Realisierung des Ereignisstranges genügt hier die Angabe der Zahl und Größe der Tafeln, auf denen in Bildreproduktion und Schrift chronologisch die Zeitereignisse wiedergegeben werden. Benötigt werden mindestens 12 Ereignistafeln pro Jahr, also insgesamt etwa 180 Tafeln. Da die Tafelgrößen variieren müssen, gehen wir von einer Durchschnittsgröße von 1x1 m aus. Material: wetterfest fotobeschichtetes Sperrholz oder Aluminium oder Kunststoff. Die Befestigung erfolgt über Steckbeine bzw. Pfahlhängung.

Diesem chronologischen Zeitstrang werden den Geländegegebenheiten entsprechend die eigentlichen Ausstellungseinheiten als Inseln im Zeitstrom zugeordnet. Den Eingang in den Kulturlehrpfad bilden handcolorierte Reproduktionen von Originalplakaten, wie sie von Demokratien und Diktaturen des Ostens wie des Westens als Aufforderung, sich am 1. Weltkrieg zu beteiligen, verwendet wurden. Das Motiv ist die auf den Betrachter ausgerichtete Zeigehand eines Patrioten, der zumeist nur die Aufforderung DU (Du sollst in die Armee eintreten, Dich braucht die Armee) im Wort an den Betrachter richtet. Engländer, Amerikaner, Franzosen, Russen, Deutsche verwendeten dieses ikonografische Motiv gleichermaßen. Diese Tafeln werden trichterförmig angeordnet, so daß der Besucher selber der Aufforderung nachkommt, indem er den Pfad beschreitet.

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Das Weltkriegsgeschehen wird nur in zwei Situationen gestreift: Auf der linken Seite des Pfades zunächst eine Ansammlung von Strohhüten auf unterschiedlich hohen Stöcken, so als schaue man über eine Menge Kriegsbegeisterter im Spätsommer 1914, die ihre Strohhüte schwenken. Auf der rechten Seite ein entsprechendes Feld auf Kreuze gesetzter Stahlhelme, die durch Gewalteinwirkung entsprechend deformiert sind.

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Zweiter Bezug auf das Weltkriegsgeschehen: Eine Bretterwand mit aufgemaltem Truppentransportwaggon mit den bekannten Aufschriften „Zum Frühstück nach Paris". Gegenüber ein schäbiger Rohbrettertisch mit Blechnäpfen, in denen je eine rohe Kartoffel das Durchschnittsfrühstück von 1919 darstellt.

Die jeweils zwischen diesen Ausstellungseinheiten liegenden Informationen, die durch die Bild- und Schrifttafeln des Ereignisstranges und durch die erläuternde Wanderkarte dem Besucher geboten werden, werden im folgenden nicht immer wieder erwähnt.

Links und rechts des Ereignisstranges jeweils Balkonandeutungen Reichstagsgebäude und Berliner Schloß. Vom Reichstag aus proklamierte Scheidemann am 9.11.1918 die „freie deutsche Republik“; zur gleichen Zeit proklamierte Liebknecht vom Schloßbalkon die „freie sozialistische Republik“. Material: Holz wetterfest gestrichen, zwei schwebende Spruchbänder in Rot und Schwarz-Rot-Gold mit den genannten Beschriftungen (ohne Figuren).

Der Deutsche am Scheideweg. Die für die gesamte Weimarer Republik entscheidenden politischen Auseinandersetzungen werden in dem ironisierten Klischee des Herkules am Scheideweg in einer Ausstellungseinheit verbildlicht. Der militärisch-wirtschaftliche Zustand Deutschlands unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg und der Abdankung des Kaisers ließ drei Ziele politischen Handelns erkennen:

1. Wiederherstellung des Zustandes wie vor dem 1. Weltkrieg (Restauration)
2. Reformierung der Gesellschaft im Hinblick auf eine soziale und liberale Demokratie (bürgerliche Mitte incl. SPD)
3. Anschluß Deutschlands an die Weltrevolution, wie sie sich in Rußland angekündigte (extreme Linke)

Diese drei Wege werden von einem podestartigen Anstieg, also von oben gegen den Fußboden betrachtet. Sie sind mosaikillustriert. Die Ikonografie entspricht den damals von KPD, SPD und Freicorps als den Vertretern der drei Wege verwendeten Bildmustern. Von dem erhöhten Podest führt in etwa 50cm Höhe eine Wegüberbauung über die 3 Wege hinweg als der Weg, den die Republik tatsächlich genommen hat und den der Betrachter nachschreitet. Das Geländer dieses Weges ist mit den Emblemen der Nationalsozialisten geschmückt, wobei vom Geländer aus Stockzangen jeweils auf die 3 darunter liegenden Wege hinuntergreifen, so daß versinnbildlicht wird, wie die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als eine schlau gedachte Synthese konzipiert wurde. Von der Restauration übernahmen sie die deutsch-nationalen Tendenzen, von der Reformation die sozialistischen und von der Revolution die Arbeiterklasse als zukünftig wichtigste Gesellschaftsgruppe. Diese Versinnbildlichung ist notwendig, weil heute vielfach nicht verstanden wird, daß die Nationalsozialisten sich einerseits als Sozialrevolutionäre präsentieren konnten (Strassergruppe) und andererseits deutsch-nationale Traditionshüter werden wollten (Ludendorff-Gruppe). Die drei Wege, voneinander radial wegführend, enden in einem Zeugnis für ihre jeweils radikalste Ausformung: Die Restauration beim Kapp-Putsch, die Revolution beim Hamburger Aufstand und die Reformation bei der Notverordnung.

Entstehung einer neuen Ikonografie der Öffentlichkeit: Mit dem Versailler Vertrag wird zum ersten Mal der Topos „Die großen Vier“ durch die Medien ausgebildet. Lloyd George, Clemenceau, Wilson und Orlando werden nebeneinander in dem berühmten Sesselhalbrund gezeigt, lebensgroß, Foto auf ausgesägten Sperrholzprofilen, nur von vorne aufzufassen.

1919 Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner 8.11.1918. Betriebsrätegesetz Januar 1920, dargestellt durch Text vom laufenden Tonband, zu 5 Situationsfotos in der Größe von 1 m x 1,50 m; vom Tonband 5-Min.-Text in Endlosschleife mit den in Schlagworten vorgetragenen Argumenten der damaligen Auseinandersetzung in der Gewerkschaftsfrage.

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Das damals allgemeine Interesse für die Archäologie, 1922, nach den Entdeckungen des Tals der Könige durch CARTER und die der sumerischen Königsgräber durch WOOLEY wird vergegenwärtigt durch die Anlage eines Grabungsfeldes in einer Geländevertiefung, mit der entsprechenden Markierung der Fundobjekte. Nach dem Durchschreiten dieser 2 x 3 m großen Anlage stößt der Betrachter auf Blickfenster, seitlich in die Erde führend, hinter denen Gebeine gestapelt sind, wie sie in den Beinhäusern auf den Schlachtfeldern in Frankreich ebenfalls um 1922 angelegt wurden. (Die einen gräbt man raus, die anderen ein). Verweis auf die Cook's-Reisen mit einer Reproduktion der Schlachtfeldbeschriftung in Verdun: Touristen mögen bedenken, daß die von ihnen aus der Erde gegrabenen Kriegssouvenirs gefährlich sein könnten; und andererseits der Reproduktion jener Mitteilung an CARTER, daß derjenige mit dem Todesfluch belegt sei, der die Königsgräber öffne.

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Das Reisebüro Cook veranstaltete ab 1923 touristische Ausflüge zu den Schlachtfeldern von Verdun. Der Hinweis auf diese neue, bis in unsere Zeit so folgenreiche Art, sich der Realität anzunähern, wird dokumentiert durch einen alten Reiseomnibus mit entsprechender Außenbeschriftung. Auf den Sitzplätzen des Busses sichtbar die Picknickausrüstung für die Touristen mit einer Verhaltensanweisung der Reiseleitung, sich beim Picknicken nicht außerhalb der Kratermulden zu lagern.

Ruhrgebietsbesetzung 1. 11.1923 durch die Franzosen als Pfandnahme für nicht gezahlte Reparationen an Frankreich, mit der Reaktion des passiven Widerstands der Ruhrbevölkerung. Dargestellt in einer Personifikation des Ruhrgebiets als Geisel: Den Körper der Geisel bildet das Landkartenprofil des Ruhrgebiets, senkrecht gestellt; die Beine werden von einer Anzahl von Bürgern und Arbeitern gebildet, das Janus-Haupt trägt einerseits die Gesichtszüge der fünf wichtigsten Separationspolitiker, andererseits der drei entschiedensten Streiter für die Einheit des Reiches. Daneben (maßstäblich) als Kohlenhalden a) die tatsächliche Produktion b) die von Frankreich geforderten Reparationen.

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Erste Veröffentlichung eines Arbeiterhelden in Rußland 1923. Das Bild des gesellschaftlich bedeutsamen Helden verschiebt sich von der militärisch-künstlerisch-wissenschaftlichen Elitepersönlichkeit zum Vertreter der Arbeitermassen. Material: Bretterzaun oder Ziegelsteinmauer mit rundum aufgeklebten Portraits des ersten Arbeiterhelden (Fotokopien). Zugleich wird damit die Nutzung der Wand als Publikationsmedium dokumentiert.

Mit dem Wäschekorb zum Gehaltsempfang: Das Inflationsgeschehen in Deutschland bis 1923 wird durch eine Reihe jeweils gleicher, nacheinander aufgestellter Waren dokumentiert, denen aber der Inflationsrate entsprechende Kaufpreise – in Form von reproduzierten Geldscheinen – zugeordnet sind. Das Publikum kann eventuell diese Geldscheine gegen Einwerfen eines Betrages in einen Automaten an Ort und Stelle erwerben. Der inhaltliche Kern des gesamten Inflationsgeschehens ist so kurz und bündig mitzuteilen, wie er sich in der Tat ausnimmt und wie ihn alle Wirtschaftswissenschaftler darstellen: In Deutschland wurde der Krieg nämlich, im Unterschied zu England und Frankreich, durch Kriegsanleihen bei Privatleuten finanziert. Der Staat mußte also ein Interesse daran haben, diese Kriegsschulden loszuwerden (desgleichen die Wirtschaft ihre Schulden). Das war am einfachsten durch Inflation zu erreichen, weil nach wie vor das Prinzip Mark = Mark galt. Der Verleiher bekam also nominell den Betrag, der ihm geschuldet wurde, zurück; nur konnte er sich für den erhaltenen Betrag nur noch einen Bruchteil des Wertes beschaffen, den er mit dem ursprünglich ausgeliehenen hätte erwerben können. Veranschaulicht wird dieses Geschehen zusätzlich auf der Produktionsebene: Vergleich von Wertschöpfung mittels Güterproduktion und Geldschöpfung mittels Druckpresse. Material: eine als Geldpresse klischierte Druckeinheit und eine Maschine, die z.B. Blechkästen formt.

1923 Fließbandproduktion (siehe Seite 57 dieses Konzepts) Modeentwicklung (siehe Seite 57 dieses Konzepts)

Die Entstehung des Abzahlungsgeschäfts in Amerika nach 1924 durch die neue Wirtschaftsmaxime, daß der Wirtschaftskreislauf erst gewährleistet sei, wenn man dafür sorge, daß Geld unter die Leute kommt. Dokumentiert wird dieses Prinzip als Szene: Von einer Last-wagenplattform werden durch eine Verkäuferpuppe Massenwaren verteilt, wobei die Käufer (ebenfalls Puppen) von Werbern zum Unterschreiben der Ratenzahlungs- und Kreditverpflichtungen überredet werden (Tonband, endlos).

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An einer Stichstraße des Hauptstrangs stehen links und rechts auf Postamenten denkmalsähnlich die für die Zeit typischen Sozialcharaktere: der Raffke, der Arbeitslose, der Kriegskrüppel, der Angestellte, der Proletarier, der SA-Mann, der Freicorpsler, der Herr
Direktor, der Jude, die Studierte Frau, das Revuegirl, der Sonnenanbeter, der Wunderheiler und Wahrsager, der Rentenempfänger. Die Puppen werden ausgeführt von der Klasse Kramer/Hochschule Kassel. Zugleich soll anhand der Kostümierung dieser Figuren ein zweiter Durchgang durch das Modethema geleistet werden.

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Die 3 bewußtseinsbildenden Filmszenarios (Fritz LANG/Metropolis, EISENSTEIN/Panzerkreuzer Potemkin, WIENE/Caligari) werden nacheinander gestaffelt als räumliche Überbauungen des Pfades durchschreitbar. Da diese Konstruktionen sehr anfällig gegen Zerstörung wären (wenn nicht, wie anzunehmen ist, für die Räume ein Wächter zur Verfügung steht), sollte man ein, allerdings an die Auffassungsgabe des Besuchers hohe Anforderungen stellendes (da zugleich satirisches) Kulturmonument errichten. Die allseits berühmte Treppe von Odessa mit dem Kinderwagen (EISENSTEIN) wird in der Manier der Caligari-Interieurs (W1ENE) gestaltet, über die die Roboterfigur aus Metropolis (LANG) herabsteigt.

Als die Franzosen 1930 das Rheinland räumen, tauchen französische Soldaten in den Rhein, um zu zeigen, daß sie einmal wiederkommen werden. Diese Szene wird an einem gegebenen oder durch Folie angedeuteten Wasserlauf im Gelände rekonstruiert. Dabei ist es nicht nötig, über die Fahnentücher und Fahnenstangen hinaus auch noch eine Soldatengruppe nachzubilden.
Die Gestaltungsarbeit des Bauhauses wird durch eine Reihe von Objekten zur Wohnkultur dem ornamentreichen historizierenden Geschmacksrepertoire des Kleinbürgertums gegenübergestellt (jeweils fünf Objekte: Stuhl, Lampe, Geschirr, Teppich und Wandbild). Die Objekte sollten in der Größendimension 1:1 entlang einem Stichweg links und rechts formiert werden.

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Die beiden hervorstechendsten Formationen von Gruppen werden links und rechts von einem Laufsteg als plastisch überhöhte Bildwände dargestellt. Gezeigt wird einerseits ein Dutzend Revuegirlbeine in Aktion bzw. entsprechend Marschkolonne a) militärisch b) zivil. Die Choreografie des Gesellschaftsrhythmus sollte verstärkt werden durch Ineinanderdringen entsprechender Musiken. Das 1922 von BOHR entwickelte Atommodell wird vergrößert (Holz und Draht) mit entsprechendem Texthinweis auf die Bedeutung der Entwicklung von Modellvorstellungen ausgestellt.

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Die Parteienlandschaft der Weimarer Republik, repräsentiert durch einen Fahnen- und Plakatwald über einer Bodenplatte, auf der die Wähleranteile der betreffenden Parteien als Steckklotzhaufen sichtbar gemacht werden. Der Besucher kann entsprechend den vorgegebenen Zahlenangaben zur Wählerentwicklung der Jahre 1918-33 selber die Pyramiden zusammenstellen.

Die von einer breiteren Öffentlichkeit meistdiskutierten Publikationen der 20er Jahre werden als Bibliotheksdenkmal in den Kulturlehrpfad eingebracht.
Das Denkmal besteht aus einer umschichtbaren Pyramide aus verschiedenformatigen Büchern. Mindestformat 80 x 60 x12 cm, Material Holz massiv mit Seiteneinkehlung und Buchrückenprofil und Titel-Autor-Aufdruck. Auch hier gilt wieder, daß die Entscheidung, ob die einzelnen Titel dem Erscheinungsjahr zugeordnet werden oder einen geschlossenen Block bilden sollen, von den Gegebenheiten des Geländes abhängig ist.

Das aufkommende Interesse für exotische und „primitive“ Gesellschaften wird angedeutet durch das Aufstellen einiger tibetanischer Gebetsmühlen in Mannshöhe, wie sie ab 1929 durch Wilhelm FILCHNERs und Sven HEDINs Reiseveröffentlichungen populär wurden. Zugleich Hinweis auf die zahllosen Sektenbildungen in den westlichen Metropolen, die „Lebensheil“ durch Übernahme einzelner Versatzstücke alter Kulturen zu erreichen versprechen. Dazu ein Emblemwald (Fotoreproduktion) auf Holztafeln mit den von den Sekten verwendeten Symbolen vom Hakenkreuz bis zum Freimaurerauge.

Die Film- und Schauspielstars der Zeit erscheinen als ausgesägte Enface-Darstellungen in einem Guckkasten, nach dem Prinzip der Schießbuden, wo man auf bewegliche Ziele schießt. Die einzelnen Köpfe mit deutlich sichtbarem Namen in Brustbeinhöhe tauchen hintereinander und nebeneinander momentweise hinter dem Budenhorizont auf.

15 Lautsprechereinheiten, am Zeitstrang entlang aufgestellt, mit eng begrenzter Schallreichweite. Sie geben die für die Einzeljahre beliebtesten Schlagermelodien wieder.

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Der erste Verkehrsturm (Ampel) 1925 am Potsdamer Platz wird in Lattenholz nachgebildet. Auf einem Wiesenareal, wie zum Trocknen ausgelegt, überdimensionierte Badekostüme für Männer und Frauen mit jeweils einer Demonstration (durch Ausstopfen) ihrer unmoralischen Verwendung (sichtbar eingenähter Zwickel, wie sich BRACK mit seinem Zwickelerlaß erzwang).

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Die Dauerwelle hält in die Friseurtechnik Einzug: ein möglichst kopfähnlicher Busch wird mit Flachsfasern von einem Mittelscheitel nach beiden Seiten hin frisiert; links herabhängende Normalhaare, rechts dauergewellte Idealform.

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Perspektivisch stark verjüngt, auf Abstand konzipiert, eine etwa 10 m lange Bretterwand, auf der Menschen beim Schlangestehen in 3er-Reihe vor einer Bäckerei und einer Pferdeschlächterei zu sehen sind: Die Schlange als soziale Formation mit eigenen psychologischen Gesetzmäßigkeiten und eigenen Kommunikationsformen (z.B. die Technik der Ablösung beim Schlangestehen, das Verteilen verschiedener Familienmitglieder auf verschiedene Schlangen, um die Erfolgschancen zu erhöhen.).

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In ein Gebüsch hineinführend, mit beiseiteziehbarem Blumenvorhang: mehrere Diktatoren, werden beobachtet, wie sie zugleich einen Hund, ein Kind und einen Blumenstrauß an die Brust drücken. Das Ganze film- und gemütskitschig koloriert. Es reicht möglicherweise auch, einen synthetischen Politiker mit den bekanntesten Attributen von STRESEMANN, STAUN, CHAMBERLAIN, MUSSOLINI und HITLER (Hund) zu versehen.

Etwa ¾ m breite Fensterfassade mit durchsichtigem Vorhang, vor einem Guckkastenraum (1 x 1 x 2 m), in dem geheimnisvoll angestrahlt Erik Jahn HANUSSEN auf all jene Hellseher verweist, die für die Weimarer Republik eine so große Rolle spielten, daß bei ihnen sogar SA-Führer, Minister und Polizeipräsidenten und Wirtschaftskapitäne jenen Rat einholten, den man heute den Meinungsforschern abverlangt.

Die Reichswehr übt mit verbotenen Waffen: Tankattrappen auf Fahrräder montiert im Gelände.

Niederschlagen des Studentenaufstandes 1928. Dokumentation durch ein Friedhofsareal mit 27 Holzkreuzen für die Opfer. Dabei ist der Rasenboden des Parks nicht zu verändern. Das Feld wird nur durch aufgelegte Gehplatten umgrenzt.

Die hervorgehobenen Beispiele (1-14) sollen zu einer ersten Realisierung des Kulturlehrpfades zusammengefaßt werden und – um Kosten zu sparen und die Risiken der nichtoptimalen Verwirklichung möglichst gering zu halten – in einer Form realisiert werden, die es ermöglicht, den Gedanken des Kulturlehrpfades zu überprüfen. Es wird deshalb vorgeschlagen, die erste Verwirklichung eines Kulturlehrpfades in einer Einheit mobil zu halten, d. h. die markierten Situationen im Ausstellungsraum des IDZ Berlin und wechselweise an verschiedenen Plätzen und Straßen Berlins dem Publikum anzubieten. Eine solche Überprüfung durch unterschiedliche Publikumsgruppen in verschiedenen städtischen Erlebnisräumen läßt eine differenziertere Aussage über die Chancen einer Verwirklichung des Kulturlehrpfades in einem Freigelände über längere Zeit zu. Bisherige Erhebungen zu dem Gedanken des Kulturlehrpfades rechtfertigen prinzipiell die Annahme, daß mit seiner Einrichtung das Interesse der Bürger an den kulturellen und sozialen Zeugnissen ihrer städtischen Lebensumgebung in einer völlig neuen Weise geweckt werden kann, wobei die besondere Präsentationsform des Kulturlehrpfades eben auch einen hohen Unterhaltungs- und Freizeitwert garantiert. Um diese generelle Möglichkeit im einzelnen zu belegen, empfiehlt es sich, in der vorgeschlagenen Weise mobile provisorische Teilrealisierungen vorzunehmen.