Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 639 im Original

Band IV.Teil 2.B.1 Der Action-Film als Handlungslehre

– Damit wir wissen, was ist und was kommt

Die unter diesem Thema zusammengefaßten Beiträge entstammen der Kolumne, die Bazon Brock von April 1965 bis März 1966 in der Zeitschrift FILM unter der Rubrik ‚Bazon Brock. Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt‘ publizierte. Die folgenden fünf Beiträge (1.1.–1.5.) entsprechen in ihrer Reihenfolge nach den Heften 10, 7, 8, 9 und 6 des Jahres 1965. Der Eröffnungsbeitrag ‚Kritik dessen, was ist, und Kritik dessen, was noch nicht ist‘ befindet sich in ‚Vermittlung als Beruf – Generalisten und Spezialisten‘ (in Band I, Teil 3, 5), da in ihm der Film nur Anlaß für grundsätzliche Überlegungen zum Thema Kritik ist. Ebenfalls in dieser Kolumne veröffentlicht wurden ‚Der künstlerische Avantgardist als gesellschaftlicher Reaktionär‘ (FILM 12/1965 – 2/1966, hier in Band I, Teil 1, 10); ‚Ein Modell der Versöhnung‘ (FILM 5/1965, hier in Band III, Teil 4, 1); ‚Der Ort der Ereignisse, die Architektur des Vergnügens‘ (FILM 11/1965, hier in BAND IV, Teil 4 A, 10.5) und ‚Kunst als Arbeit‘ (Auszug aus ‚Mode und Tod‘, FILM 9/1965 und in diesem Band, Teil 4 B, 3)

1.1 Der empirische Charakter schießt

Das Todesproblem nach SCHOPENHAUER am Eingang jeder Philosophie. Und inmitten jeden Action-Films! Warum?
Der scharfe Anriß des Problems legt folgenden Schluß nahe: Distanz gegenüber dem gesellschaftlichen Leben ist heute aus der erhofften Identität des Individuums ebensowenig möglich wie aus der Gewißheit des Todes. Wo solcher Versuch der Distanzierung dennoch betrieben wird, wird er zur Ausprägung von Moden und zur unbeabsichtigten Bestimmung der Fragen nach dem Sinn des einzelnen Daseins als privatem Anliegen. Was also die sogenannten universellen Werte ausmacht, wird zur modischen Attitüde der Privatheit (selbst Kunst und Philosophie nicht ausgenommen). Darin kehrt sich die Arbeitsleistung des Individuums in der Gesellschaft gegen es selbst: es wird verleitet, immer wieder hinter sich selbst zurückzufallen, hinter den Grad der Reflektiertheit seines Lebens, in die Reflexivität des Produktionsprozesses. Es fängt dann jeden Morgen von neuem gleich dumm an; liefert sich jedem Ereignis gleich unmittelbar aus, als sei es 'das erste Erlebnis'. Es weigert sich, Erfahrungen zu machen, die die Aufhebung der Privatheit zur Folge haben.
Jede Produktion ist äußerste Formalisierung, die volkswirtschaftliche so gut wie die individuelle. In ihrem höchsten Grade aber vermag auch solche begründende Rationalität inkommensurabel zu werden, das heißt, sie verbraucht sich nicht durch ihren Gebrauch. Darin liegt, daß sich Zukunft nicht mehr zu ereignen vermag, da das Neue nicht mehr als das Unterschiedene erscheint: der Unterschied verschwindet in der Inkommensurabilität des Prozesses. An der großen Flut der jetzt im Verleih befindlichen Zukunfts- und Weltherrschaftsfilme wird diese Problematik thematisch. Diese Filme zeigen nachdrücklich den Versuch eines jeweils einzelnen Protagonisten, die Inkommensurabilität des Zukünftigen zu durchbrechen. Sie wollen glauben machen, ein Einzelner könne gegen das System angehen. Sie machen dabei zwar den Mechanismus der 'bösen' Macht sichtbar, sie zeigen, wie dieser oder jener Mächtige zur Macht kam und demzufolge ihrer auch wieder beraubt werden könne. Jedoch: der durch die Aktion sichtbar sich herstellende Zustand der Welten, der Gesellschaften, ist nur als der schon existierende zu beschreiben: die Gegenwart als Zukunft, womit nichts gewonnen ist. Die Zukunft wird ohne Zeit. Was erst eintreten könnte durch den zeitlichen Ablauf des Prozesses, wird nach Erreichen nur Gegenwart. So schloß sich auch für GODARDs 'Alphaville' der Kreis: Die Zukunft wird zum Terror des gegenwärtigen Lebens und das Leben eben deshalb aufs Zukünftige beschränkt. Diesem Dilemma versuchen sich einzelne Autoren zu entziehen. GODARD, als der wichtigste, läßt anstelle der Unbestimmbarkeit des Neuen wieder das genauso unbestimmbar gewordene Gegenwärtige treten: die Poesie, die Schönheit und was er so Humanität nennt. Doch hat sich die platte Lächerlichkeit dieses Ansinnens selbst den anspruchslosesten Betrachtern von 'Alphaville' mitgeteilt. Von dieser Seite her wußte der Action-Film ebensowenig zu leisten wie der Kunstfilm. Er hat jedoch den Vorzug, beschreiben zu können, wie denn der Gang der Handlung, der Verlauf des Prozesses, unsere eindeutige Form des Lebens sein kann. Er reproduziert den gesellschaftlichen Charakter, den empirischen, und seine Verkehrsformen.
Auf solche Verkehrsformen reduziert sich das Leben unserer Gesellschaft. Mode und Tod sind zwei ihrer deutlichsten. Die Vergesellschaftung des individuellen Todes hat J. MITFORT jüngst für Amerika beschrieben; die Aufhebung der individuellen Identität in der Mode beschrieb Georg SIMMEL vor 50 Jahren. Beide Autoren bedauern, was sie zu beschreiben genötigt waren, weil sie noch zu stark dem Begriff der Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet sind, wonach der Produktionsgang in einem Produkt zu enden hat, von dessen fertiger Form rückwirkend der Prozeß zu kritisieren ist. In den entwickelten Industriegesellschaften ist aber das Produkt nur Moment des Prozesses selbst. Dadurch entfällt die Möglichkeit einer kritischen Aufhebung des Prozesses. Der hier gemeinte Action-Film spiegelt die am weitesten entwickelte Reproduktionsform unserer Gesellschaft. Seine Prozesse entsprechen den ihren. Seine Problematiken sind ebenfalls nicht mehr die der Sachen, sondern ihre Verkehrsformen. Die Sachen selber haben die Fähigkeit eingebüßt, sich als kritische Instanzen der Gesellschaft entgegenzustellen: der Tod, die Liebe, die Natur: sie sind in der Mode, die eigentlich ihre Leugnung sein wollte, aufgehoben. Die berühmte Formel Thomas MANNs müßte heute also lauten: der Mensch soll um seiner selbst willen weder dem Tod noch der Liebe und Güte Macht über seine Gedanken, seine Reproduktionsformen gewähren.
So ganz formalisiert, bedeutungslos, so ohne den Inhalt als Sache ist die Hauptverkehrsform des Action-Films zu verstehen: das Schießen. Der empirische Charakter schießt nicht mehr, um in verständlicher Intentionalität zu einem Produkt seiner Arbeit zu kommen, wobei die Motivation des Handelns sich gegen jede gesellschaftliche Vermittlung durchsetzte (Thema des Kunstfilms), sondern er schießt in konsequenter Ausweitung gesellschaftlicher Erfahrung über sein Leben. Er formuliert den gesellschaftlichen Prozeß durch Imitation in augenblicksweisen Übersichten, die meistens als Gag geschossen werden. Das Moment der Imitation wird im Action-Film stark betont, wodurch ein Vorgriff geleistet werden soll, der seinerseits wiederum gesellschaftlich imitierbar ist (in der Mode). Die Protagonisten vom Action-Film sind somit niemals kriminelle, also gesellschaftlich nicht vermittelte Charaktere. Es ist so verständlich, warum gerade in den Kunstfilmen der Schießende als Täter jener Tat und ihrer Motivation verstanden wird, als der er dem Action-Film von den Kunstfilmkritikern als unverständlich unterschoben wird. Doch ist nur im Kunstfilm die persönliche Leiche das Resultat des Ganzen. Der empirische Charakter bedient sich nicht der Motive einer privaten Eschatologie, sondern der Verlaufsformen eines Produktionsprozesses. Es ist eben leider ein Irrtum, daß der Produktionsprozeß unmenschlich sei, weil er etwa die Massentötungen autoritärer Systeme zur letztlichen Folge habe. Der Produktionsprozeß verlangt um seiner Aufrechterhaltung willen genau das Gegenteil von Tötungen: er schafft den Tod ab. Der Tod im Action-Film ist also nicht jener individuellen Lebens - es wird nicht gemordet. Wie die Gesellschaft nicht mehr den individuellen Tod erfahren lassen kann, so bringt auch der Action-Film nicht mehr die einzelnen Tötungen zu Gesicht, sondern Verlaufsformen gesellschaftlichen Lebens. Solcher Tod ist unvereinbar mit den langwierigen Verlaufsformen, die das gesellschaftliche Leben bestimmen, ist deren äußere Verkürzung, die zur Aufhebung aller Vermittlung führen würde. Die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung zur rigorosen Lösung einer Sachlage bliebe nur individuell. Gelöst aber wird im Action-Film nichts, höchstens nach Art der Werbe-Spots: die schaffen erst den Wunsch nach der Lösung eines Problems. Diese aber verweigert zu Recht jede entwickelte Gesellschaft, wie sich der Action-Film dem Tod als Lösung verweigert. Als Resultat muß er ihn manchmal zur Kenntnis nehmen, um ihn desto schneller hinter seinem Fortgang zu lassen. Die umstandslose Reduktion aufs Wesen, wie es doch im Tode immer noch angeblich erscheinen soll, würde den Action-Film in den Bereich des bürgerlichen Kunstfilms zurückstellen, für den es allerdings nur noch den Tod als vermittelnden Zusammenhang gibt. Das Feststellen des Lebens im Tode, die Produktion der Ewigkeit, ist eine typische Leistung der vergangenen Kunst. Die Ehrfurcht vor den Toten ist die vor dem fertigen Produkt, das eine Steigerung nicht mehr erfahren kann. Ehrfurcht ist ein gesteigerter physiologischer Affekt, aus dem keine Reproduktion von Leben zu leisten ist. Das Aufzeigen eines beständig sich entfaltenden Prozesses, innerhalb dessen der Tod Formen der Kommunikation von Lebenden höchstens ist und als Verlaufsform des Prozesses nicht unterbestimmt bleibt, ist die besprochene Leistung des Action-Films.
Was die Gegenwärtigkeiten sich zum Typ erwählen, zum Kunstverstand, zum Einverständnis, gibt Aufschluß über das, was sie von sich wissen oder wissen wollen. Können könnten sie. Wenn sie nicht wollen, kann es geschehen, daß die Gegenwart sie selbst verkehrt und mit dem Gesicht zur Wand stellt. Dann müssen sie es sich gefallen lassen, als Mode konstatiert zu sehen, was ihnen universelle Werte sind, und als Tod, was ihnen ewiges Leben hieß. In diesem Verstande wechseln die Moden nicht, sondern die Ewigkeiten; die Sterblichen währen, dieweil die Unsterblichen vergehen. Im Kino.

1.2 Freiheit hinterher
– Eddie CONSTANTINE, James BOND, Donald Duck und Bazon Brock in einem Boot

Bemitleidenswert, die lieben Kollegen von der Satzinhaltspartei und der Aussagenzwangswirtschaft wurden in höchstem Schiedsspruch um etliche Grade zur Seite gedrückt: Mister LESTER erhielt in Cannes die Goldene Palme für einen Dreh, einen Knack, einen Knallfrosch. Bemitleidenswert sind sie, die doch mit langem Arm immer wieder verwiesen auf die Würde einer allgemeinen Aussage über des Menschen Los in Krieg und Not, das sich indessen zumeist ganz würdelos als Spektakel des Geschäfts darstellt. Solches Geschäft, auch als Filmkunst geübt, durch gute Absichten gestützt, wurde zum ersten Male in Cannes abgewiesen trotz der in allen Rezensionen betriebenen Bestechungsversuche mittels Menschheitspathos.
Bemitleidenswert, weil die Herren einerseits sich selbst erhöhen müssen, indem sie gegen die Bewußtlosigkeit des Zeitgeistes fromme Taten üben, andererseits ihre Reputation dadurch stärken wollen, vorauszusagen, was jener Zeitgeist ihnen schließlich als Resultat vor die Augen halten könnte. Die frommen Taten waren die Plädoyers für die Kriegsfilme (weil sie zeigten, daß Krieg eine schlimme Sache sei) und die Problemfilme (weil sie zeigten, daß der Mensch des Menschen Wolf sei).
Das Eingehen auf den Zeitgeist kündigte sich nur indirekt an: die deutschen Kritiker versicherten, sie hätten zwar nicht die Qualitäten LESTERs erkannt, aber noch rechtzeitig erahnt, als sein BEATLES-Film in den Vorstadtkinos zu sehen war.

Dies Zugeständnis wurde nur gemacht, um sich nicht zu blamieren. Zu einer Revision des Urteils kam es nicht - zuviel stand ihnen auf dem Spiel -, zumal es in Deutschland nicht als erlernbare Tugend gilt, seine Niederlagen zu feiern als Befreiung aus der Fixierung auf gegebene Vorstellungen. Sollten diese Vorstellungen selbst wahre und richtige sein, aus ihrem moralischen Übergewicht und dem entstehenden Zwang, sie durchzusetzen, werden sie niederträchtig und der auf sie Fixierte bösartig - weshalb die Wahrheit immer nur wahr bleibt, das Unwahre aber die Verhältnisse zwingt.
Der Kritik, soweit sie Kritik dessen ist, was es noch nicht gibt, kann nicht gelten, sich den Tatbeständen zu unterwerfen, sich der nackten Wahrheit zu unterstellen. Was da ist, ist verloren. Ganz zu Recht kann im referierten Machwerk eines Mannes, in seinem Buch, Film, Bild und Dingsbums nur immer das nächste gemeint sein, auf das verwiesen wird durch das bereits vorliegende. Blaß bleibt solches Recht spürbar in der üblichen Bemerkung, diese bestimmte Äußerungsform eines Künstlers sei ein Versprechen auf die nächste. Das Aufrechterhalten dieses Versprechens macht die Geschichte der Künste aus, wie die Freiheit des noch nicht Bedeuteten, des Instabilen die Geschichte unseres sozialen Lebens ausmacht.
Leider sieht die Kritik sich nicht auf gleiche Weise gefordert und vermeidet jegliches instabile Erfassen des Realen; obwohl doch die Künstler und filmmaker das für unabweisbar halten. LESTERs neuer Film 'The Knack' ist ein letztes federndes Bild dazu.
Aber mit jenem Witz, daß eine große Zukunft stets hinter einem liege, will ich nicht an LESTERs Film, nicht an dem unseren Kritikern noch unverständlichen Exemplarischen meinen Strick anknüpfen, sondern daran, was ihnen griffbereit in der Tasche steckt: die Formen verdinglichten Bewußtseins, die sie wie Knüppel gebrauchen. Der geschlagene Hund ist der Action-Film im allgemeinen, seine Protagonisten im besonderen.
Das Modell meines Vorgehens entnehme ich GODARDs 'Le Mépris', der es seinerseits wieder aus John CAGEs 'Silence' entnommen hat, also aus dem Standardwerk der literarisch-szenischen Kunstübungen der Moderne.
Rada KRISHNAN war ein indischer Weiser, der viele Schüler hatte. Einer von ihnen war mit seinem Meister unzufrieden und ging ins Land, um dort vielleicht die Weisheit zu erlangen. Nach 15 Jahren kehrte er stolz zu KRISHNAN zurück. "Meister", sagte er, "ich habe die Weisheit gefunden. Komm mit mir an den Fluß, ich werde es dir beweisen." Sie gingen an den Fluß, und der Schüler überquerte ihn auf den Wellen, ohne naß zu werden. Der Meister aber schalt ihn: "Du bist nicht weise, sondern ein Narr. Was du nun gelernt zu haben glaubst, konnte ich immer schon mit einem Boot oder einigen Rupien Fährlohn."
Und während wahrlich unsere oben gemeinten Kritiker der 'neuen Kritik' übers Wasser zu gehen versuchen, will ich immer doch mit dem Boot übersetzen. Der Grad meiner Meisterschaft wird ihnen verborgen bleiben, denn alle wollen Lehrer sein, niemand Schüler. Als Meister aber darf ich wohl Schüler bleiben.
Mit mir im Boot sitzen Eddie Constantine, James Bond, Donald Duck. James greift ununterbrochen zu seinem schwarzen Spezialkoffer, um ihn wieder auf den Bootsboden zurückzusetzen. Eddie liest 'Le Grand Sommeil', tut aber wahrscheinlich nur so, um unauffällig die Uferböschung abzusuchen; Donald nimmt aus dem Bootsverschlag die Utensilien aus den Filmen seiner beiden Freunde, um sich ihnen verständlich zu machen.

Sie wissen, daß sich jemand verändert, wenn er verschiedene Attribute des Realen sich aneignet. Und daß diese Realien ihnen zu Widerständen werden müssen, um ihr Können zu beweisen, denn Können heißt, auf Widerstände bezogen zu sein. In der Demonstration solchen Könnens liegt der Antrieb des Action-Films, was allerdings leicht als Mechanik mißzudeuten ist. Immerhin schreibt ja KRACAUER den nicht auf 'Ewigkeiten' bezogenen Menschen mechanisches Handeln vor, wie es auch der Tanz ist oder die lange Reise.
Donald, so weit fortgeschritten in seinem Bewußtsein, daß er schon ganz ohne Leben auskommt, sich als Geist zu manifestieren weiß vor aller Wirklichkeit der Gestalt seiner Freunde, hält ein Kurzreferat über den Ort der Handlung, weil er das beständig für Onkel Dagobert zu tun gezwungen ist. Er skizziert die Entwicklung von der platonischen Gastmahlshalle als Ort der Philosophie und der agora als Ort der Handlung im Altertum bis heute. Die Zwischenstadien waren: das Kloster als Ort der Philosophie und die Burg als Ort der Handlung im Mittelalter. Um 1500 die Laienkirche als Ort der Philosophie und das Schlachtfeld als Ort der Handlung; nach 1600 das Theater als Ort der Philosophie und der Hof als Ort der Handlung; Mitte 17. Jahrhundert die Natur als Ort der Philosophie und der Salon als Ort der Handlung; um 1800 die Dichterklause als Ort der Philosophie und der Place de la Bastille als Ort der Handlung; im 19. Jahrhundert der Vorlesungssaal der Universität als Ort der Philosophie und das Kabinett als Ort der Handlung. Heute haben wir in der gesellschaftlichen Gruppe innerhalb ihres Zusammenschlusses mit vielen den Ort der Philosophie und im Kino den Ort der Handlung zu sehen, unter Berücksichtigung der Tendenz der Menschen, sich leichter als Denkende denn als Handelnde zu verstehen (ohne die einstmals sittliche Verpflichtung zu erfüllen, stets von der Betrachtung zur Tat, von der Theorie zur Praxis überzugehen, da beide Bereiche heute nicht mehr eindeutig zueinander geordnet sind).

Die Unmöglichkeit des Handelns hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt. Das Ernstnehmen der Möglichkeit fällt schwer, aus den differenzierten Begriffen sich zur Handlung forttreiben zu können. Wie, in welchem Maße Handlung heute möglich ist, zeigen die Tathandlungen Eddies, Bonds und Donalds. Zeigt der Action-Film. Nur unvermittelt zu leben, gleicht dem Versuch, etwa den 'Hamlet' unter Wasser spielen zu wollen: die Bewegungen werden verzögert, das Medium, die Mittel zur Aufhebung der Aktion. Da unten kann man nur denken, nicht handeln, sagte Donald, deshalb sehen auch alle Fische so philosophisch aus.
Am Action-Film läßt sich Handeln wieder bestimmen. Für Bond als scheinbar affektives, doch stets auf ein Ziel ausgerichtetes. Er hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt, dessen Ziel sich während der Dauer der Aktion nicht ändert. Für Eddie wird Handeln bestimmbar als sich aus sich selber entfaltende Aktion ohne vorherbestimmtes Ziel, da sich für ihn die Aufgaben ändern mit der Veränderung der Lebensumstände und Umwelt. Er scheint ein beweglich gewordener archimedischer Punkt zu sein. Der scheinbar reglementiert handelnde Donald Duck verschafft sich aus der Handlung die Gewißheit, sich nicht in einem Exerzitium zu befinden, sondern in einem Organisationsablauf von möglichst vielen Zufällen, so daß schließlich alles auf eine Entscheidung hinausläuft. Aus der Entscheidung nimmt er die Freiheit über die Sachen und vor allem seinen Elan. Der Kinogänger und Rezipierende endlich nimmt eine Melodie mit, die seine eigenen Teilgesten zur Handlung zusammenzieht. Das läßt sich verifizieren, wenn man Menschen aus dem Kino kommen sieht: das Anzünden einer Zigarette, das Überqueren der Straße, die Verknüpfungen zum Geschehen in der Umwelt werden plötzlich real, weil sie als Modelle des Handelns aus dem Film mit nach draußen genommen und der Wirklichkeit aufgesetzt wurden. Die sich sonst unbemerkt schneidenden Bewegungskurven der men in the street werden dem Kinogänger zur überschaubaren Form verbunden. Darin liegt der übliche Vorwurf der Kritik gegen den Action-Film. Wenn aber der Action-Film nach der Seite des Bestehenden etwas Ideologisches hat, so hat er besser noch nach der Seite des Seinsollenden ein fortschrittliches Moment.

Der auf diese Weise, durch Übertragung, Handlungsabläufe erkennende Kinogänger leistet nämlich dabei die Einsicht, wodurch er als Handelnder notwendig von dem getrennt sein muß, was sein Leben bedingt. Niemand sah bisher James, Eddie oder Donald in Nöten hinsichtlich der Reproduktion des eigenen Lebens, des Essens, des Bettes für die Nacht, der rechten Kleidungsstücke für den rechten Anlaß.
Deshalb umgibt die Helden Eddie, James und Donald das Geheimnis des zurückgelegten Weges, die instabile Vermittlung, die zugleich auch inkommensurabel werden kann. Ja, was Donald Duck anbetrifft, wird für ihn die höchste Form der Vermittlung zur Inkommensurabilität, die Freiheit ist. Während James stets abgeht durch die Mittel und ihre Verfügungsbereitschaft. Auch daran reibt sich die Kritik und nennt 'Goldfinger' ein Machwerk aus zu teurem Material. Doch verhält's sich damit wie stets viel bedachter: es werden so auch in den kommerziellen Reklamesendungen als Anpreisende einer Ware immer solche Menschen gezeigt, die das nicht nötig haben, was sie als nötig anpreisen. Wer der Aufforderung der Werbenden entspricht, die Ware kauft, wird wie die, die sie anpreisen: er hat sie nicht mehr nötig. Die kritischen Anschreier glauben den Mitmenschen von derartiger Machenschaft bedroht, verführt und entstellt durch Reklame. Umgekehrt ist's, er wird befreit. Kauft X das Mittel Y, so doch deshalb, um abzuschaffen, was ihn veranlaßt hat, Y zu kaufen. Den Kauf also aufheben zu lassen, was ihn allein in seiner Freiheit einschränkte: der Wunsch oder die Notwendigkeit, Y haben zu wollen oder zu müssen. Leider hat sich die bürgerliche Produzentenschaft doch beeindrucken lassen von den ebenso bürgerlichen Einwänden der Verfügungsfunktionäre. Deshalb sehen wir James des öfteren mit schlechtem Gewissen und gezwungen, seine Aktion rechtfertigen zu müssen durch bürgerliche, rein kontemplative Kultur: er weiß den Wein oder das Jacket von anderen aufs genußsüchtigste zu unterscheiden. Eddie ist ohne schlechtes Gewissen, dafür hat er Verantwortungsgefühl und kann so unbelastet in der Sphäre des Allgemeinen gleichsam Unternehmerinitiative ergreifen, während James als Korrespondent des Privateigentums gezwungen wird, nur zu arbeiten im Dienst der Produktionsmittel. Weshalb gerade er Erfahrungen machen kann, während der scheinbar uneingeschränkte Eddie immer nur alles weiß und unangestrengt seine Identität durchhält. Für den innengeleiteten Bond wie für den außengeleiteten Eddie wird dabei Psyche zu einer Welt von Äquivalenten dessen, was gilt. Welches sichtbar wird durch Zerstören als individuelle Freisetzung, ohne archaische Impulse, wie die Kritiker zu meinen belieben, sondern als Verfügung über Material. Die individuelle Freisetzung - bei Bond von Schrecken begleitet, bei Eddie ohne den geringsten Grusel - läßt dem Kinogänger deutlich werden, daß die von ihm in der Demokratie geforderte Wachheit und Reaktionsfähigkeit nur zum reibungslosen Ablauf des Betriebes genützt wird. Der Action-Film unserer Protagonisten verhindert im Gegenteil die Unausweichlichkeit der Erfüllungserwartung, die dieses Leben heute fast wie das griechische unter den Zwang, die Ananke, stellt, sich zu erfüllen, wenn auch in anderem Resultat. Eddie, Bond und Donald gehören nicht mehr zum Star des verschrieenen Typus: das Publikum ist von ihnen und ihrem Leben nicht ausgeschlossen und auf Klatsch angewiesen. Es wird ihm das wichtige utopische Moment unauslöschlich eingepflanzt, ebenfalls alles haben zu können und über alles zu verfügen. Das Gesicht ohne Maske, der säkularisierte Star, der nicht als Schauspieler, vielmehr als Großstädter auftritt, trägt die erhobene Individualität gegen den Gemeinbesitz von Heroentum, wie ihn die politische Handlung von Menschen verlangt.
Im Hinblick auf die Kunstwürdigkeit des Action-Films, die ihm abgesprochen wird, konstatieren Eddie, James, Donald und ich: der Action-Film kommt leicht und aus Versehen dazu, Kunst zu werden, indem er wirklich alles ausfaltet, was der Apparat, auch der technische, aus sich entlassen kann, soweit er nur richtig gehandhabt wird. Das klingt nach Tautologie, für die GODARD eine große Vorliebe hat. Er dreht als bevorzugter 'Kunstfilmregisseur' mit Eddie. Wahrscheinlich deshalb, weil Eddie solche Entfaltung als Akteur forciert, wie Donald DISNEY forciert und Bond seine Filmproduzenten. Die Schlußeinstellung in GODARDs 'Außenseiterbande' ließ ein solches Vorgehen ankünden. Allenthalben zeigen sich die Zeichen, selbst in Cannes. Und weiter sollte im Flachland unserer Republik der Zug verpaßt werden, weil unsere Kritiker auf der Suche nach dem verlorenen Kunstwerk sind?

Donald schüttelt den Kopf. Eddie verspricht mir, nach Deutschland zu kommen. Bond zeigt nach oben, auf Pussy GALOREs fliegende Miederinhalte. Alle vier werden wir in der nächsten Kolumne unseren Plan enthüllen: Action-Film und der Spielcharakter moderner Macrosysteme.

1.3 Action-Film, Sprintstrecke des Lebenslaufs

Es sei empfohlen, den vorausgegangenen Artikel zu memorieren und dazu 'I cast my fate to the wind' aufzulegen. Das heutige Exerzitium unserer Erfahrungsfähigkeiten soll darin bestehen, sich vorzustellen, die F-105 der 7. US-Flotte würden anstatt der Bomben über den Dschungeln Vietnams 4 Millionen Exemplare von 'I cast my fate to the wind' abwerfen mit den dazugehörigen Plattentellern. Welch ein Bild: unter sattgrünen Bäumen auf weiten Arealen drehen sich die Scheiben, während die Jungs ihren Reis knautschen und beinahe lächeln. Wer noch nicht weit genug ist, mag wenigstens daran denken, daß nicht nur zahnärztlich verursachter Schmerz durch Musik gelindert werden kann, sondern auch das Sterben selbst. Gute Erfahrungen aus allen modernen Kriegen liegen vor. Aber diese Erfahrungen mit der Kunst werden wohl wieder ungenützt bleiben. Da seht ihr's, Herren Kritiker, man soll halt nicht auf dem Kunstanspruch bestehn! Der Action-Film besteht nicht darauf, aber erfüllt ihn in auffällig häufiger Weise. Die geschmähte Unmittelbarkeit des Glücks läßt er aufkommen, von außen seine Position zu erfahren: "Ja, das bin ich." Doch die dazu vonnötene Identifikation ist nicht die mit dem Bild des unerreichbaren Lebens, sondern die der erreichten Kindheitserinnerungen, den gebliebenen Erlebnissen, die eigentlich in der Kindheit nur Bilder waren ohne Leben. Das Abenteuernde am Action-Film ist sein Vermögen, jedermann in den deutlich gestellten Bildern der Erinnerung das Erinnerte als einen Vorgriff darzustellen auf das Leben, das er gewißlich führen wird. Das als Vergangenes erfahrbar werden zu lassen, soll den einzelnen Bildern die böse Macht und den Schrecken nehmen, den, welchen das Märchenbuch auch den Kindern einflößte. Zudem verlangt das Erzählte, sich zur Geschichte zu bringen, zur Menschheitsgeschichte. Nur ein Vergangenes läßt sich als Geschichte erzählen. Würde dasselbe Leben im Vorgriff bekannt, es ließe sich nicht mehr leben.
Daß der Action-Film dabei leicht ins Monströse abgleiten kann, diese Gefahr teilt er mit der Demokratie, in welcher eigentlich auch bei zunehmender Macht der Gesellschaft die des Einzelnen wachsen sollte, sich als Individuum zu befreien. Um den Hinweis noch platter zu machen: Ganz Berlin ist heute ein solcher Monsterfilm (besonders schlecht, weil die Besetzung zu gut ist), in welchem die Herrschaftsbereiche der einzelnen Mitspieler nicht durch die gewachsene, auch ökonomische Macht sich ausweiten zur Szene des Individuums. sondern sich verhärten zum Tribunal des in Berlin lebenden Künstlerkollektivs, das insgesamt nur Bewegung vermitteln kann. Bewegung als Dauerzustand. Ein lebendes Bild von Toten. Da war sogar die Fotografie schon weiter, sie lieferte doch ein totes Bild von immerhin Lebenden. Diese Differenz qualitativ gemacht, heißt, einen Action-Film drehen. Nun, das Fleisch ward immer erst Wort. da es stank und verweste. Das Action wird Film, da ihm auf gleiche Weise das Material verwest. An der Reflexion des Materials setzt der kleine Hebel an, der den Film ins Rollen bringt: jener so kleine, den James Bond in Fort Knox im A-Bomben-Kasten sucht: verzweifelt beugt er sich über den undurchsichtigen Apparat, betastet ihn, versucht hier oder dort etwas drehen oder fortziehen oder rausnehmen zu können. Er beginnt zu schwitzen (in solchen Filmen ein untrügliches Zeichen), er zeigt seine Angst (wie in allen seinen Filmen), er weiß, daß er dieser Maschine nicht gewachsen ist, weil sie endgültig determiniert ist (womit er bei seinen menschlichen Gegnern nie zu rechnen braucht und weshalb er auch gegen sie gewinnt), er findet die Einstellung nicht, ist dem Schülerexamen nicht gewachsen, in bestimmter Zeit eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Und er wird vom Lehrer geschlagen, der seine Hand von links ins Bild schiebt und eben jenes Hebelchen rumlegt, den Befehl zu geben versteht, auf den hin die Maschine sich wieder in Metall und Elektrizität zurückzieht: auf den hin sie als Material verfällt.
Das kennzeichnet den Action-Film, der Realität nicht aufbewahren will als aufbereitetes Material, sondern es wegwirft, ja, seinen Verbrauch postuliert. Die Tempi des Action-Films sind die Phasen einer steigenden Wut, das Material zu vernichten. Darin hat man faschistoide Züge sehen wollen, es bleibt jedoch ein Unterschied, ob man mit dem sogenannten Menschenmaterial umgeht oder mit reproduzierter Natur. Zunächst will der Action-Film doch gegen die latente Drohung des Kunstverstandes angehen, dem alles verwahrt bleiben soll, gehortet und liebevoll geordnet. Daraus lebt das Kunstgewerbe, dem die Erhaltung des Materials oberstes Gebot ist. Auch GODARD ist die Grenzüberschreitung häufig verwehrt, weil er am Material klebt, den gelungenen Streifen nicht aufgeben will, weil er ihn einmal nun so und so gesehen und nicht vergessen hat. Allen seinen Filmen käme zugute, mit seinem Material nach Art des Action zu verfahren. Das alte liebevolle Bannen des Stoffes (welcher die inhaltliche Seite des Materials ist) zeitigt groteske Formen im Gewebe: so hat HEIDEGGER z.B. in Basel einen Vortrag gehalten, vielmehr vom Blatt gelesen, den er in Stuttgart schon gehalten hatte. Da die Anwesenden in Basel aber andere als die in Stuttgart waren, berührte es denkwürdig, HEIDEGGER aus Ehrfurcht vor dem Material alle jene Namen in Basel verlesen zu hören, die in der Begrüßung zu Stuttgart von HEIDEGGER genannt worden waren. Vielleicht zeigt dies besser, wie wir im Action den Materialbegriff fassen. Das Zerreißen (VOSTELL), das Wegwerfen (moi), die Geste hin/fort sollten ernster bedacht werden als bisher, da man sie als Zubehör von Marktschreierei verstehen zu können sich erlaubte.
Von allen Filmgattungen versteht es der Action-Film am besten, sich der Repression zu entziehen, die unsere Kultur ausübt: demzufolge sind die Kritiker des Speziellen besonders über ihn ins Trampeln geraten. Schon Form ist Repression: die Bestimmung des verflüchtigten Materials von oben herab. Man möchte dem Material von außen aufbrummen, was es zu tragen hat. Im Action ist es aber eher ein angestrengtes Vakuum, das dem Material entgegentritt, auf das hin es sich ausrichtet, von dem es seine Bewegung bekommt - und nicht geprägte Form. Die Konstruktion seiner Bewegung ist die der Vibration in der seriellen Kunst. Das Problem: wie muß das einzelne Moment aussehen, damit nach Ablauf ihrer Zuordnung der Eindruck von Freiheit des einzelnen Moments erhalten bleibt oder entsteht und nicht der einer Reglementierung, die doch den Verlauf bestimmte? Dieses Problem wird im Film durch den Schnitt gelöst. Der Schnitt bewährt sich als die Aufhebung der Reglements, als das Durchblitzen der horizontalen Bewegungsabläufe mit vertikalen Querschüssen (als solche, weil der Schnitt nicht objektiviert werden kann, nicht als Muster, als Schnittmuster unterlegt werden kann). Wird, wie im 'Kunstfilm', der Schnitt zum Zweck des Handlungsvorwurfs, so erstarrt in dem Film die objektive Zeit zum Ornament, während der Action-Film jeglicher Differenzierung der Zeitbegriffe bewußt aus dem Wege geht, ja sie kontert. Im Action-Film wird die reale Zeit gegenüber der subjektiven Erlebnis- und Erzählzeit aufgewertet: daher die ungeheuerliche Ausführlichkeit, der Instrumentalismus, mit dem im Action-Film die einzelne Handlung ausgedreht wird, die Einzelheit des Türgriffs, der Fensterwinkel usw. Das hat auch der Stummfilm getan, und was so an diesem uns heute noch lesbar bleibt, ist im Action-Film zu sehen.
Was anderen Medien, ja auch anderen Gattungen des Films zur Forderung einer normativen Dramaturgie geworden ist: die Einheit von Raum und Zeit etwa, wird dem Action zur qualitativen, er bringt sie in den Übergang zum realen Leben zurück. Wer je im Action einige Leutchen an einem Tisch speisen sah, wird, über bloßen Bildbegriff hinaus, sich und Freunde an einem Tisch anders essen sehen, nämlich im Verstande der realen Zeit, die vergeht, während... usw. Das Zurückziehen der Einheiten von der Leinwand ins Publikum, was die Zeitlichkeit anbetrifft, ist die reale Tat des Action-Films. Unveräußerlich. Der miserable Eindruck von Zeitlosigkeit, den Kunstprodukte im allgemeinen machen, wird versierten Action-Film-Besuchern nur noch beim Eierkochen entstehen, wo er auch hingehört. Das Zeitlose und Ewige wird so entdeckt als die Mode, die geschichtslose Geschichte, als Ladies Home Journal.

1.4 Ritualisierung des Privaten – Mode und Tod

Wo das Erschleichen von 'Übereinkunft der Subjekte mit sich selbst', Publikum, Nation, wir zu sein, offenbar wird, liegt gesellschaftliche Realität frei. Die Erschleichung äußert sich in Repressionen der Kultur, auch als individuelle im Zwang zum Akzeptieren seiner Rolle, im Ausschluß dessen, was nicht per definition dazugehört. In solchen Zwängen erscheint gesellschaftliche Realität. Solcher Zwänge inne zu werden, nicht nur als Opfer, sondern als selber repressiver Charakter, dürfte zum Schwierigsten im Bereich der Künste, der Machwerke heute gehören. Die langen Haare der Knaben entlarven leichthin unsere Mitleute als Agenten gesellschaftlicher Repression. Die Äußerung "Hier haben Sie zwei Mark, damit Sie dem Friseur ein Trinkgeld geben können", enthüllt sogleich jenes Maß an nicht notwendigem gesellschaftlichem Zwang, der Repression heißt. Das immer noch sogenannte Kunstwerk als Entäußerung von oder gegen gesellschaftliche Repression einsehbar zu machen, hält viel schwerer: als Ritualisierung, der Zelebralisierung des Privaten als Mode und seiner 'zeitlosen', geschichtslosen Bewahrung im Tode, den man im Action gestorben sieht.
Gesellschaftliche Repression ist begleitet vom Applaus. Die Bejahung gilt sich selber, ist Bestätigung, sich nicht geirrt zu haben. Sie ist Ausdruck der erwarteten und auch eingetretenen Identifizierung des Werks durch den Künstler mit dem Publikum. Die Fixierung des Werkes in der Gesellschaft ist dessen eschatologischer Zielpunkt, den erreicht zu haben, die Versicherung abgibt, Gesellschaft sei nicht das Opfer des Werkes, sondern seine Intention, sein gewollter Endzustand. Und also sein Tod, denn die strenge Intentionalität der Gesellschaft führt in den Tod als der gewährleisteten Bewahrung ihrer selbst. Der strenge Ausdruck solcher Intentionalität ist die Mode. Weshalb der 'empirische Charakter' als das typische Vollmitglied der Gesellschaft im Action-Film schießt und tötet, wie weiter unten ausgeführt werden wird.
Der Applaus gilt also dem Tod des Werkes. Wer nicht applaudiert, gilt als ungesellig, als verneinend, weil er sich dem Ritual der Korrespondenz, dem Begräbnisakt entzieht. Jedes Ritual gilt aber nur als die Institutionalisierung des Privaten (seiner Angst, alleingelassen zu werden, seinen Wünschen, seiner Bedingtheit). Sie leistet eine momentane Aufhebung der gesellschaftlichen Unterschiede zum Zwecke ihrer Erklärung und Begründung; weshalb "das ganze Volk" sich vereint "in der Andacht vor dem Kunstwerk", um hinterher um so sicherer in die Vereinzelung der Interessen zurückzufallen und sich darin sicher zu fühlen. Das substantialisierte Interesse ist der Konsum, die Partizipation an der selbstgezeugten, durch eigene Arbeit reproduzierten Natur; wobei durch den Konsum notwendig Aufhebung der Privatheit, Selbstverzehr der Subjekte intendiert wird; um der Selbstaufhebung zu entgehen, flüchtet sie in den Tod als den Fortbestand des individuellen Lebens mit anderen Mitteln, in neuem Kleide: als Mode.
Die Zelebralisierung des Konsums ist die Mode, der scheinende Aufgang eines Allgemeinen, eines allen Vermittelten (des Todes), der den Individuen einen Teil ihres Lebens vorweglebt und abnimmt, seine Entscheidungen kanalisiert und beliebig oft reproduziert, was ihnen den Charakter der Allgemeinverbindlichkeit zuzusichern scheint. Wäre aber Mode tatsächlich Signum des konkret Allgemeinen und nicht nur ritualisierte Individualität, so könnte jenes Allgemeine regreßpflichtig gemacht werden, weicher Versuch "die Zeiten waren nun einmal so, deshalb ist das und das so geschehen" lächerlich scheitert. Denn das Allgemeine ist gerade die ausgehaltene Einzelheit, das durchgehaltene Besondere (das blaue Papier, die Badewanne, der Kopfstand), also das ganze Gegenteil von Mode.
So wird das Bestreben, unverwechselbare Individualität zu bewahren, zum Akt der Konformation, zum Tod. Das Unverwechselbare ist ja allem Modischen zu eigen und macht gleich, was sich entschieden zeigen wollte. Das CourregekIeid der 'modisch bewußten Frau', die 'Bücher der Einzelgänger' sind eben die aller bewußten Einzelgänger, als welche sie Einzelgänger nicht länger sind. Die Mode ist der Tod des Einzelnen als Subjekt wie als Objekt gesellschaftlicher Interaktion (Begegnung). Die Mode als das Immergleiche des Immeranderen (des nur an anderen Erfahrbaren) wird zur inhaltlichen Bestimmung des Todes, den Kar! KRAUS als "letzten Schrei" (le dernier cri = Mode) beschrieb.

Diesen Zusammenhang konkret werden zu lassen, ist das konstatierbare Wesen des Action-Films. Abstrakt, als Schein, läßt es sich auch im Tode der MONROE, in den Autobahnriten der amerikanischen Jugendlichen, den Kraterspielen der Japaner bedeuten, wobei der Unterschied etwa zu dem Werthertod und den nicht gesellschaftlich organisierten Todestrieben früherer Entwicklungsstufen erscheint: ihnen war der Tod noch metaphysische Kategorie, Glaubenszwang oder die aus sich entrollte Dynamik der reinen Tat.
Da nach dem Tode die Erwartung auf Etwas stand, galt das Leben auf es hin. Sobald Gesellschaft das Leben des Einzelnen als in ihr erfüllt auffaßt, gilt der Tod als Bestätigung der Gesellschaft, als das ewige Leben unter Einschluß aller Wahrheiten, denen es nicht gelungen ist, die Gesellschaft abzuschaffen, worauf alle Wahrheit tendiert, um nicht am herrschenden Unheil teilzuhaben. Weil die Wahrheit geworden ist und werden wird, steht sie der Bewahrung der Gesellschaft als dem ganzen Leben entgegen. Die Bewahrung wirkt als Zwang, gegen den Kunst und Philosophie sich behaupten zu müssen glauben, ohne zu verstehen, inwieweit sie gerade dadurch reaktionär werden, weil sie neben den nach innergesellschaftlicher Rationalität ablaufenden Prozessen ein reines Unveränderliches als Sein behaupten. Diese Kunst und Philosophie werden so zur Mode.
Der Tod kann nicht mehr als Einspruch gegen die selbstgegründete Rationalität verstanden werden, sondern nur noch als ihre Bestätigung und Fortsetzung. Als der als heutiger schon historische Tatbestand. Was ihn historisch macht, ist seine Wahrheit, die im Action-Film erscheint, denn nur in ihm erfährt man in dieser Gesellschaft noch etwas über den Tod.
Es gibt für die Wahrheit keine Möglichkeiten, außerhalb der von der Gesellschaft angebotenen Formen zu erscheinen. Ganz im Gegensatz zu der üblichen Auffassung, daß die Gesellschaft die Wahrheit hinter der Fassade zu verbergen suche, um sie nicht wahr sein zu lassen, läßt sie sie aus eben demselben Grunde überall schamlos zu als Unterhaltung.
Den Zuschnitt der Wahrheit aufs gesellschaftliche Subjekt kann man als Unterhaltung definieren. So kann sehr gut der Tod im Kino unterhalten.
Leider kann nicht jedem die Unterhaltung auf diese Weise verdorben werden wie mir Anfang August: verabredet mit Peter IDEN, saß ich im MGM. Gegen 15 Uhr sahen wir NERO übers brennende Rom blicken, überwältigt vom Charisma des originären Künstlers, als welcher er sich durch die Vernichtung Roms zu betätigen suchte. Größer als HOMER, wahrer als die Vermittlung ist die Wirklichkeit, sagte NERO, wie jeder unreflektierte Künstler, und ließ Rom brennen, um es "künstlerisch zu bewältigen". Die Wirklichkeit hat ästhetisch eben nur in ihrer Vernichtung und Aufhebung etwas zu bieten, weshalb viele schlechte Künstler bis hin zu HITLER immer wieder in die Politik flüchten als der Möglichkeit, die Realität zu vernichten um der Schönheit willen. Die Weisen haben's gewußt, und die Oberlehrer gebeten, deshalb die 'Künstler' von der Politik auszuschließen. Denn es ist ein Irrtum anzunehmen, die Politik sei als einzige noch Sphäre des unvermittelten Eingreifens in die Wirklichkeit, weshalb grobschlächtige Gemüter es in ihr so weit brächten.
Als nun NERO es bis zum Kunstwerk gebracht hatte und gegen 15 Uhr aufs brennende Rom sah, wo die 28000 Einwohner des Stadtzentrums sich anschickten, aus Gründen der 'Wirklichen Kunst' mitsamt ihrer Stadt eine modische Veränderung zu erfahren und somit starben, wir aber von ihrem mannigfachen Tode unterhalten wurden, setzte die Projektion aus (der Ton lief weiter), und nach schwarzen Sekunden lasen wir zum Originalton von 'Quo Vadis':

"Herr IDEN, bitte sofort melden, der Vater Ihrer Frau ist gestorben."

Die Lückenlosigkeit des Ablaufs von Film und Realität war unterbrochen. Was wir eben noch als bloße Einübung der Riten verstanden und mitvollzogen hatten als Zuschauer im Kino, forderte von uns eine peinlich genaue Wiederholung unseres Lebens als Film, in welchem der konkrete Tod ebenfalls nur Moment eines ableitbaren, anschaubaren Handlungsverlaufs sein durfte. Doch wir als Kriegskinder hielten das Spiel noch nicht durch, wie es vielleicht schon bald den Jüngeren virtuos und perfekt gelingen wird. Wir waren kleinmütig gebannt vor der Schlagzeile am Kiosk, die des Tages von Hiroshima gedachte: noch einmal drehte sich der Heckschütze der B-29 Enola GA Y, der Sergeant Georg C. CARSON. nach der Stadt um. "Holy Moses, what a mess", hatte er gesagt, dieweil NERO: "Beim Jupiter, was für ein Kunstwerk habe ich geschaffen!" Da wir indes nicht mehr auf dem Kunstwerk bestehen, verzichten wir auch auf die Realisierung des letztmöglichen Kunstwerks gutbürgerlicher Art: den Weltuntergang: statt der großen Häufungen von Kapital und Vernichtung die schöne Kontinuität von Moden und Toden.

1.5 Frühling, Frühling, etwas ist dran

Es ist wieder soweit. In jedem kleinen Vogel steckt ein großes Flugzeug, das nach Carolina fliegen will. The Venture Five aßen am Nollendorfplatz Schweinebauch und lasen die Zeichen von den Wänden des Pissoirs: "Tritt näher, als Du denkst!" Mein Freund Karl Alfred Freiherr Revalier von MEYSENBUG träumte davon, wie er seinen Lieblingsprofessor vor den Straßenjungen bewahrte, indem er dieselben ohrfeigte und in die Ecke stellte, Und während den Kastanien, von unzüchtiger Natur getrieben, die Kerzenstengel steil aufragen, der fromm verwaltende Wind dafür sorgt, daß wieder viele kleine Kastanien geboren werden - während die alte Schweinerei als neues Leben besungen und gefeiert wird, sitze ich am Mischpult, um den Begriff etwas vom Leben in der Sache selbst zum Ausdruck bringen zu lassen: LUNA softeis oder RHENO grün. Wie weit Natur uns zur selbstgemachten, zur Ballsaaldekoration geworden ist, las ich im Taunusgebüsch: "Die nächste Toilette, großer und kleiner Gebrauch, fünf Kilometer weiter geradeaus." Nicht einmal das Militär steigt noch im einsamen Vietnambusch aus der Hose, um sich sichtbar dem Stoffwechsel mit der lebendigen Natur zu verbinden: das ist gut, so sollte es sein. Geschäfte werden im Freien nicht mehr verrichtet, also auch keine Poesie mehr, keine Literatur, die kann 's nur so geben, wie schon von Dame Edith SITWELL dem Baron CLOUSTER nachgeschrieben: dessen Sohn hatte es satt, die Welt und Hügel grünen zu sehen, jedes Jahr aufs neue. jedes Jahr gleich, tödlich gleich, langweilig dasselbe, unentschuldbar einfallslos. Baron CLOUSTERs Sohn wußte, wie sich da das Blühen ereignet, das Treiben in die Höhe und nach allen Seiten. Diesen Irrsinn kann nur ertragen, wem als Schöpfer der Begriff fehlt und wer zeitlos seine Steine wälzt, die Spule dreht. CLOUSTERs Sohn wollte sich umbringen, wenn's diesmal wiederum so kommen würde wie alle Jahre und Tage. Der Vater war Engländer genug, dem good Lord, o jesus, die Kompetenzen zu entziehen: er ließ das große Anwesen rot streichen - GOETHE berichtet dasselbe als Verlangen LESSINGs im dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit -, den Park, den lawn. das bedhouse, den wiggle, die Öchslein und Leibsklaven. CLOUSTERs Sohn schien gerettet, ließ sich indes nicht blenden. Schnurstracks ritt er aus seines Vaters Haus und erkannte sich getäuscht aus Liebe zum Leben. Der undankbare Sohn. Er hatte die stolze Geste eines Mannes, der heute ich bin, den Habitus und unverbrüchlichen Charakter eines Bekenners, die Moralität eines Agitators wider die höheren Rechte des Lebens. Er war jung und schrieb Tagebuch; ich heute filme. Da heißt es, die Technik habe unsere Umwelt verändert. und was tun die Deppen: sie schmeißen sich, kaum greints im Grund, unter die Bäume. lagern sich frisch luftig ins Feld wie im Mittelalter, das Liebchen zur Seite, zupfen den Halm, leben gesund, zelten am See, wandern durch Gottes dickes Fell. So seid gewarnt: die Anpassung unterm bettenden Busch ist schwerer abzubauen, im Freien werdet ihr gefesselt! Boykottiert den Sommer, bleibt in den Städten, tragt Schwarz bei Sonnenschein! Wo man im Hause die Ameise jagt, spielt man da draußen Indianer mit ihnen, läßt sich willig einen roten Biß aufs Oberbein setzen und kaut den Sand mit Butterbrot. In den Städten hält man's nicht aus, Wand an Wand mit Tausenden wahrhaft Lust sich zu gönnen, aber im Walde liegen die Paare zu Hunderten quadratmeterweise nebeneinander und zeugen für die Dummheit des Natürlichen auf einem dafür vorgesehenen Terrain, Eintritt ohne Wolldecke 2,50 DM: bewachter Schlaf.
Und solche Leute sollen was von der Kunst verstehen, der Literatur, dem Film.
Und solche Regisseure wollen was vom Film verstehen, die die Handkamera draußen heben im richtigen Wald, an richtigen Bäumen aufschwenken und die wirklichen Eichhörnchen belauschen. Film, der aus dem Atelier ins Freie zieht, ist seiner selbst nicht sicher, versichert sich der bewiesenen Wirklichkeit als Bettstatt, der des Prokrustes. 1957 saßen wir' sommers in SELLNERs Garten, GRÜNDGENS kam zur Inspektion. Der Nachmittag verstrich, es blieb sehr heiß. Die Abendvorstellung des 'Sommernachtstraums' sollten wir besuchen. GRÜNDGENS schlug vor, die Aufführung im SELLNERgarten stattfinden zu lassen, besann sich aber sofort, sagte: "Nein. nein, das geht nicht. Die Bäume sind ja wirklich!" Die artifizielle Existenz verlangt allerdings, daß man sie durchhalte, vom Entschluß am Schreibtisch bis zum Lebensende. Daß da bei uns die Macher sich Künstler nennen, wenn sie ad hoc zu diesem und jenem einzelnen Fall eines Buches, eines Films sich den bösen Blick zulegen, ist schon ein starkes Stück Anmaßung. Erst als Künstler Ansprüche stellen und dann die Moneten als Bürger verleben, das ist ihr Ziel. Mit Recht verlangt auch das unvermutete Publikum von ihnen, daß sie sich von allem Privaten befreien, daß sie Tag wie Nacht durchformen und vorzeigen, woraus sie im einzelnen taghellen Premierenfall Ansprüche ableiten. Das Gekeife der Kulturmenschen nach der respektierten Sphäre auch bei den extemporierten Mitmenschen öffentlichen Interesses, zwingt sie als die beschimpften Banausen, ihren Star, Autor und Bildermacher abends am Bettrand aufzusuchen und ihm beim Zähneputzen zuzuschaun. Gut so, brav mit Bravo. Wer's nicht verträgt, baut sich selbst ab auf das, was er geblieben ist: ein Dummchen im KNOLL International, ein 'Möchte-gern-aber-nicht-für-immer-und-so-ganz-und-gar'. Für jeden Künstler sagt's doch das Orakel an der Pissoirwand in Berlin: "Tritt näher, als Du denkst!"
Produkte unserer Branche können kein Angebot unter der Hand sein. Waschpulver kann es sein, Brot und Nähmaschinen. Wer Filme macht, schreibt und den Pinsel spazierenführt, ist anderm Anspruch ausgeliefert: dem öffentlichen, dem politischen. Nicht die abstrakte Form des willkürlichen Gesetzes verbietet es dem Ministerialdirigenten, mit seiner verheirateten Geliebten in einem Leihwagen auf einem Parkplatz die menschlichen Urstände zu feiern, sondern die Angst vor der Möglichkeit, dabei jederzeit besehen und befragt zu werden. Solches auch nur vierundzwanzig Stunden auszuhalten, macht den Kopf öffentlichen Interesses zum nota bene Künstler. Die Presse ist berufen, die Versagenden, Müden aus dem Rennen zu nehmen, wenn sie von allein nicht das Handtuch werfen. Es könnte denen so passen, für einen Tag König zu sein, mal auch den Speichel zu spucken, den sie mit den anderen sonst lecken. Für einen Tag König, wenn die Tage schön sind, die Hochzeit nah: für einen Tag Künstler, wenn die Gagen hoch sind und die Beweislast fern. Kritiker für einen Film sein, wenn der Film ein 'Kunstwerk' ist und man es den anderen sagen darf.
Nein, aller Tage Künstler, aller Tage Abend. Der Lebensbau ist am Reißbrett zu entwerfen. Das Ende von allem ist mitzuliefern, jeder Tag ein kleiner Weltuntergang. Dann kann jeder sein eigener Star sein, der Maschineneinrichter bei der VDO, die Kassiererin beim Kaufhof, der Verkehrspolizist an der Kreuzung. Bewußtsein von Öffentlichkeit ist ihnen dann vorweisbar, wenn sie begreifen, inwieweit jeder Schritt und jedes Armausstrecken, jeder gedrehte Kopf und der Blick nach schräg oben sie bestimmt, und wie sie fremdbestimmt werden. Nur wer auf sich selbst ständig reflektiert und sich beobachtet, wird auch anderes als sich selbst wahrnehmen. Mit der platten Identifikation ist es nicht getan, wie das unsere Königskünstler glauben. Wir müssen unser Publikum zu Stars machen, zu Professionellen. Die Konsumtion, die Rezeption darf nicht länger eine Beschäftigung nach abgeschlossener Produktion sein. Der Industrie sollte das zumindest einsichtig werden: nicht in der Freizeit konsumieren, das ist nicht genug. Wir fordern die Achtstundenkonsumzeit. Die Aktivitäten sind die gleichen, ob jemand durch Arbeit produziert oder konsumiert. Wechselweise könnte die Hälfte der heute im Produktionsprozeß stehenden Menschen zur Konsumtion beschäftigt werden. Wir fordern für die Rezeption von Literatur, Kunst und Film gleiche Zeiten und Mittel, wie für deren Schaffung benötigt wurden. Es geht nicht länger an, daß jemand zehn Monate für die Herstellung eines Filmes braucht, aber dem Zuschauer zumutet, diesen Film in 110 Minuten zu rezipieren. Zehn Monate im Kino sitzen für jedermann - welche Resultate wären zu gewärtigen! Dies ist die einzige Lösung der verkrampften Problematik, der bespiegelten Krisen des Films. Es gilt, das Pferd wahrlich beim Schwanz aufzuzäumen, sonst werden wir weiter rückwärts reiten. Als Kritiker dessen, was es noch nicht gibt, sehe ich mich berechtigt, solche vorderhand blödsinnigen Postulate zu stellen. Vor allem, den Primat der Theorie vor der Praxis aufrechtzuerhalten. Sonst bleibt kein Argument gegen Herrn MARTIN und den deutschen Film der Zukunft, die jederzeit darauf verweisen könnten, es gelte eben, Filme zu machen und nicht zu reden; bloß einfach so Filme zu drehen ohne alles Drumherum an Gedanken und Spekulationen. Und es werden immer wieder nur diejenigen Filme drehen, die es schon getan haben; die mit diesem Ausweis ihrer Überlegenheit durch Praxis dem Produzenten die sichere Gewähr für den Gebrauch seines Geldes sind - oder er dreht eben keine Filme mehr. Soweit sind wir ja bereits in Deutschland West. Unsere Gesellschaft besteht aus einer zu kleinen Zahl an Individuen und deren Zusammenschlüssen, als daß sich solche selbst regulierten. Erst das Bewußtsein von der Problematik des Zusammenspiels, der Funktionsmechanismen gesellschaftlichen Lebens wird Regulative liefern. Deshalb gilt es, das Metier Film über alles auszubreiten, was unser Leben ausmacht. Deshalb gilt es, sich nicht auf das Medium einzuschränken: wer filmen will, muß auch Bücher schreiben, muß gut Auto fahren, Bilder sehen, Eis verkaufen, russisch essen, gerne fliegen, Söhne zeugen, Häuser bauen, Landkarten betrachten, H. C. ARTMANN kennen und viele Sprachen sprechen, ohne sie beherrschen zu wollen. Der beste Weg, Allgemeines vorzuzeigen und aus den Paßformen zu reißen, ist das Besondere, Spezielle, Einzelne. Alles ist weniger als eines. Zehnmal eines ist mehr als zehn. Das ist der Weg, den wir gehen wollen zu dem, was es noch nicht gibt.
Als Magenschließer eine reiche Einzelheit aus meinem Album: der Grenadier und Ehemann in 'Le Diable au Corps' trug auf seinen Mantelspiegeln die Regimentsnummer 189. Ich sah das, als François ihn um Feuer bat.

siehe auch: