Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 4 im Original

Band I.Teil 1.3 Ästhetik als Vermittlung

1977 für diese Edition verfaßt.

Es ist stets mißlich, Wörter, ja Worte und Begriffe gegen ihre umgangssprachliche Bedeutung zu verwenden. Niemand tut das gern, nichtsdestoweniger wird man dazu gezwungen, da es eben mehrere umgangssprachliche Bedeutungen von Worten und Wörtern gibt. Zudem bleibt immer zu klären, wessen oder welcher Gruppe Umgangssprache man als die umgangssprachliche zugrunde legt.
Indessen kann man jeden spezifischen Begriff als Namen einer umgangssprachlichen, zumeist sehr umfangreichen Aussage auffassen. Die sogenannten Fachsprachen lassen sich allesamt in Umgangssprachen verwandeln, wenn man die Begriffe in die unter sie gefaßten Sätze auflöst. Begriffe sind Namen für zusammenhängende Sätze. Die Verwendung von Begriffen kann aus reiner Gewohnheit sich verselbständigen gegenüber den Sätzen, die diese Begriffe ursprünglich benannten, ja, aus der Verwendungsgewohnheit kann ein solcher Begriff als Name für Sätze verwendet werden, die von den ursprünglichen sehr weit abweichen.

Ein solches Funktionsschicksal hat vor allem der Begriff 'Ästhetik' in den vergangenen 200 Jahren erfahren. Von dem Begründer der Neueren Ästhetik, BAUMGARTEN, wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts Ästhetik als Name für folgende Sätze verwendet: Trotz gleicher physiologischer Ausstattung der Menschen kommen diese Menschen doch jeweils zu unterschiedlichen Urteilen über gleiche Objekte. Die menschliche Wahrnehmung und die Verarbeitung dieser Wahrnehmung zu Urteilen unterliegt offenbar Bedingungen, die von der Entwicklung der Urteilenden im Laufe ihres gesellschaftlichen Lebens abhängen.

Jeder Urteilende wird, sobald er die Abweichung seines Urteils von dem anderer Menschen bemerkt, sich fragen, wieso er zu einem solchen Urteil kommt. Zwei Antworten liegen besonders nahe.

  1. Es könne eben prinzipiell nie zu einem einheitlichen Urteil kommen, und deswegen brauche man sich mit dieser Frage gar nicht zu beschäftigen;
  2. Man bedürfe eben einer für alle Menschen geltenden Regel, ja einer Festlegung des möglichen Urteils für alle, damit die Unverbindlichkeit der vielen verschiedenen Einzelurteile angesichts gleicher Wahrnehmungsobjekte aufgehoben werde.

Das erste Argument ist geradezu zur klassischen Standardaussage mißbraucht worden: Vielfältig voneinander abweichende Urteile angesichts gleicher Objekte müßten als bloße Geschmacksurteile verstanden werden, wobei man ja wisse, daß es nun eben mal so viele Geschmäcker wie Menschen gebe.

Das zweite Argument hat zur Ausbildung der sogenannten klassischen Ästhetik geführt (in BAUMGARTENs Zeiten war das die Ästhetik der französischen Klassik unter LUDWIG XIV.). CORNEILLE oder RACINE schufen ein festgefügtes Regelsystem, das als verbindlich anzuerkennen war, wollte man das Publikum zu einheitlichen Urteilen bringen.

Weder solche normative Regelästhetik noch die Beliebigkeitsästhetik der Geschmäcker sind aber hinreichende Antworten auf die Frage nach der Bedingtheit unserer Wahrnehmungen und Urteile; weder hinreichend im philosophischen Sinne noch hinreichend im alltäglichen Gebrauchssinne. Wir nennen Ästhetik die Lehre von der Art und Weise, wie unsere Wahrnehmungen und Urteile bedingt sind, und der Art und Weise, in der wir diese Urteile im Umgang mit anderen Menschen verwenden. Soweit BAUMGARTEN.

Dieser Namensgebungsakt, diese Bestimmung des Begriffs Ästhetik ist über der alltäglichen Verwendung des bloßen Namens 'Ästhetik' verloren gegangen. Sein Funktionsschicksal hat den Begriff zum Namen für ganz andere Aussagen werden lassen, etwa: Ästhetik ist die Lehre vom Schönen. In dieser Verwendung steckt einerseits die Auffassung, es müsse festzustellen oder festzulegen sein, was als schön zu gelten habe –sei es als Eigenschaft der Objekte, sei es als Form des Umgangs mit Objekten. Weil dieser Wunsch aber nicht erfüllt werden kann (jede Festlegung in diesem Sinne wird stets von irgendwem wieder bestritten werden), erlaubt man sich den Schluß, das Schöne sei jeweils nur das, was man dafür halte, ohne daß man von jemand anderem zu einer bestimmten Auffassung gezwungen werde. Genau diese Annahme läßt sich leicht als unhaltbar erfahren. Jeder kann an sich selbst beobachten, daß er heute dies und morgen jenes für schön hält, ohne zu einem solchen Urteil von jemand anderem gezwungen zu werden, und daß ihm häufig völlig unmöglich ist, etwas für schön zu halten, was er gestern als solches pries.

Hinter dieser Misere steckt eigentlich gar nicht ein Streit um das, was Schönheit sei (es hätte ja auch gar keinen Sinn, ein Urteil "Das ist schön" abzugeben, wenn damit nichts gesagt werden kann als etwas Beliebiges), sondern die Frage nach den Begründungen der Urteile. Wir setzen nämlich notwendigerweise voraus, daß jedes Urteil gebildet wurde und daß die Geschichte dieser Urteilsbildung in der Begründung des Urteils jederzeit rekapitulierbar ist. Das heißt aber zugleich, daß das Anerkennen von Urteilen und die Anerkennung von Urteilsbegründungen zwei nicht notwendig miteinander zusammenhängende Akte darstellen. Umgangssprachlich wird davon geredet, daß man ästhetische Urteile anerkennen (im Sinne von verbindlich halten) könne. Man kann aber Urteile ohne Urteilsbegründung nicht anerkennen, es sei denn, man würde dazu gezwungen. Sehr wohl aber kann man Urteilsbegründungen anerkennen, ohne das Urteil anerkennen zu müssen, das heißt, es für verbindlich anzuerkennen.

Deshalb muß gelernt werden, zwischen dem Urteil "etwas sei schön" und der Begründung dieses Urteils zu unterscheiden. Seit de ollen Griechen über das Schöne zu philosophieren begannen, indem sie es hervorbrachten, ist man für die Urteilsbegründungen stets auf ganz andere Begriffe angewiesen gewesen als den der Schönheit, zum Beispiel auf die Begriffe des Guten und Wahren. Schönheit resultierte für den Griechen nicht aus der Anerkennung dessen, was für schön gelten sollte oder gelten konnte, sondern war das Verhältnis zwischen Urteilsbegründung und dem Urteil, das sich selber als Handlung oder Haltung oder in einem Machen äußern mußte, so daß diejenigen, die mit solcher Handlung oder Haltung konfrontiert wurden, sich nach der Begründung zu fragen hatten. Dem Griechen war demzufolge alles Fremde barbarisch, denn solange es fremd ist, bleibt es unbegründbar und damit zugleich unwahr und häßlich.

Ästhetik als Lehre von der Bedingtheit unserer Wahrnehmungen und Urteile und der Verwendung dieser Urteile in der Kommunikation ist also Lehre von der Aufhebung dieser Bedingtheit insofern, als wir uns aus bloßem mechanischen oder zwanghaften Produzieren unbegründeter Urteile befreien können. Diese Befreiung gelingt, wenn es gelingt, ein Urteil akzeptierbar zu begründen. Was heißt das? Die Ästhetik ist bis auf den heutigen Tag in der universitären Tradition sinnvollerweise als Seitenstrang bei der Philosophie verblieben, insofern die Philosophie es immer schon mit der Begründbarkeit von Urteilen zu tun hat. Allerdings bestimmt sie diese Begründbarkeit allein in theoretischer Hinsicht und nicht im Hinblick auf die Lebenspraxis, das Handeln und Verhalten des Urteilenden. Urteilsbegründungen werden in der Philosophie dann anerkannt, wenn sie ohne Einschränkung mit jeweils vorausgesetzten Theorien in Übereinstimmung zu bringen sind. Der klassische Philosoph kann ein großer Ästhetiker sein, selbst wenn er zu Hause sich mit Objekten umgibt, die er selbst im Hinblick auf die Frage "schön oder nicht schön" niemals beurteilt.

Verkürzt, aber verdeutlicht: Im Sinne der BAUMGARTENschen Ästhetik wird eine Urteilsbegründung anerkannt, wenn der Urteilende seine eigenen Haltungen und Handlungen, seine eigene Bedingtheit im Wahrnehmen und Urteilen in die Urteilsbegründung einbringen kann. Genau das kennzeichnet eine Ästhetik als Vermittlung, daß eine Urteilsbegründung gesucht und vertreten wird, um das eigene Handeln und Verhalten aus den Zwängen bloß mechanischen und affektiven Reagierens herauszuführen. Die Urteilsbegründungen werden also nicht in normativer oder theoretischer Hinsicht abgegeben, sondern als ein Instrument des Handelns. Deshalb mußte die Ästhetik aus der Obhut der Philosophie entlaufen, wofür sie durch entsprechende Tadel, unwissenschaftlich zu sein, gemaßregelt wird. Diese Strafexpeditionen wurden erst recht nachdrücklich, als man verstand, wie die Ästhetik Vermittlung leistet:

Sie überträgt die in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen gewonnenen Aussagen über die Bedingtheit unserer Wahrnehmungen und Urteile auf Klassen von Objekten, die von diesen Einzeldisziplinen zur Gewinnung ihrer Aussagen gar nicht herangezogen wurden. Sie überträgt also beispielsweise kunsthistorische Aussagen auf Alltagsobjekte, die die Kunsthistoriker gar nicht im Auge hatten, als sie ihre Aussagen entwickelten. Oder: Sie überträgt beispielsweise psychologische Aussagen, speziell die der Gestaltpsychologie, auf Kunstwerke, die die Gestaltpsychologen sogar erklärtermaßen aus ihrem Gegenstandsbereich ausklammerten.

Ästhetik ist keine eigenständige wissenschaftliche Fachdisziplin, sondern Praxis der Vermittlung oder Praxis der Aneignung. Freilich gibt es immer noch Ästhetiken, wie heute die Informationsästhetik, die einen fachwissenschaftlichen Anspruch erheben und auch erheben können, wodurch sie aber im BAUMGARTENschen Sinne unbrauchbar werden für denjenigen, der alltäglich, d.h. außerhalb bloßen Theorievollzugs zu urteilen gezwungen ist.

Aus einem bestimmten Wissenschaftsverständnis heraus, das den Gebrauchswert der Wissenschaft danach bemißt, wieweit sie die Wissenschaft vorantreibt, kann die Ästhetik als Vermittlung selbstverständlich als unwissenschaftlich bezeichnet werden. In einem Wissenschaftsverständnis aber, das die Wissenschaft im Hinblick auf die Bewältigung der Lebensanstrengung von Menschen versteht, ist die Ästhetik als Vermittlung sogar Avantgarde jeder Wissenschaft: Wissenschaft ist sie, insofern sie es mit Begründungen zu tun hat, aber nicht mit Begründungen im Sinne von Erklärungen, sondern wieder im Sinne von Konstituierung der Handlungen und Verhaltensweisen.

Das allein ist noch nicht ausreichend für die Ausgrenzung der Ästhetik gegenüber anderen Handlungsanleitungen. Entscheidend ist erst der Objektbereich der Ästhetik. Die Ästhetik hat mit Objekten und Objektfigurationen zu rechnen, die als Vergegenständlichungen abstrakter Aussagen hergestellt wurden. Dabei geht es um die Frage, wie in einer einzelnen materialen Vergegenständlichung oder in einer Gruppe solcher Vergegenständlichungen ein Gesamtzusammenhang repräsentiert oder ausgewiesen werden kann. Das kann einerseits, wie etwa in der mittelalterlichen Ästhetik, dadurch gelingen, daß jede Vergegenständlichung, also jedes ästhetisch gestaltete Objekt zugleich auf mehreren Ebenen, den Sinnschichten, den Gesamtzusammenhang zu repräsentieren versucht.* Das kann andererseits durch Schaffung einheitlicher Gestaltungskriterien für die Herstellung einer Vielzahl von Vergegenständlichungen (Stilschöpfung) geleistet werden. Das kann im wesentlichen heute aber nur noch über die Arbeit des rezipierenden Subjekts geschaffen werden, das die vereinzelten Vergegenständlichungen mit dem von ihm selbst erhobenen Anspruch auf Erfahrung eines Gesamtzusammenhanges zu vermitteln hat.

Objekte als Vergegenständlichungen abstrakter Aussagen, also ästhetische Objekte, erhalten ihre unabweisbare Bedeutung aus der Tatsache, daß Menschen für jede Form ihres Außenweltbezuges – also auch für jede Form der Kommunikation mit anderen Menschen und sich selber – darauf angewiesen sind, in der Objektwelt Äquivalente für das zu schaffen, worüber sie kommunizieren wollen bzw. was sie voraussetzen müssen, damit sie überhaupt zu sich und anderen eine sinnvolle Beziehung aufnehmen können.

Dieser Vergegenständlichungszwang ist besonders von ADORNO mit Bezug auf MARX als Verdinglichung von Bewußtsein kritisiert worden. Die Kritik muß aber erfolglos bleiben, da selbst Sprache, in der sich die Kritik äußert, noch als Verdinglichung zu kritisieren bliebe. Sie macht eine Grundbedingung menschlichen In–der–Welt–seins sichtbar, ohne sie damit überwinden zu können.** Insofern der Vergegenständlichungszwang prinzipiell herrscht, geht ein ästhetischer Gesichtspunkt in jegliche menschliche Äußerungsform ein; die Ästhetik wird also tatsächlich für alle Handlungsbereiche konstitutiv. Das schafft vor allem dann Probleme, wenn beispielsweise Physiker oder Soziologen von dieser Grundvoraussetzung des Vergegenständlichungszwanges keine Kenntnis nehmen. Dann versucht man, über den Aufbau von Spezialdidaktiken dieses Manko wettzumachen. Diese Didaktiken können die Ästhetik aber nicht ersetzen, da sie die Objekte nur zu sachimmanenten Systemen zusammenschließen, aber nicht als Einheit über das Subjekt vermitteln. Solche Vermittlung wurde bisher nicht hinreichend bestimmt: Zwar haben die Psychologen den einen Aspekt der Vermittlung, nämlich die dem Subjekt auferlegte Pflicht zur Verinnerlichung, gewürdigt, den gleich bedeutsamen anderen Aspekt der Vermittlung, die Entäußerung, dagegen weitgehend unberücksichtigt gelassen. Mit dieser Externalisierungsleistung*** erst ist die Vermittlung durchs Subiekt gelungen. Aneignung ist als ästhetische Vermittlung immer auf Internalisierung und Externalisierung angewiesen. Aneignung richtet sich also folgerichtig auf die durchs Subjekt gelungene Vermittlung des gestalteten Einzelobjekts oder der Objekt- und damit Aussagenfigurationen mit dem in ihnen vergegenständlichten Hinweis auf eine Ganzheitsvorstellung. Die Ganzheitsvorstellung bleibt unumgänglich, sowohl im Wahrnehmungsakt (bezogen auf einzelne Wahrnehmungsobjekte) als auch für die vom Subjekt immer schon vorausgesetzte Möglichkeit, die Vielzahl der einzelnen Wahrnehmungsakte und -objekte sinnvoll zu einem Ganzen zusammenzufügen. Für diese zweite Dimension von Ganzheit ist der Name Weltbild gebräuchlich.

Nun dürfte verständlich sein, warum zuvor auf der Unterscheidung zwischen ästhetischem Urteil und der Urteilsbegründung bestanden wurde. Im einzelnen ästhetischen Urteil kommt nur die Fähigkeit des Urteilenden zum Ausdruck, einem gestalteten Objekt anzusehen, daß in ihm ein Verweis auf einen Gesamtzusammenhang vergegenständlicht wurde. Der Zusammenhang selbst steckt nicht in den Objekten. Er muß in der Urteilsbegründung durch die Vermittlungsleistung des Subjekts konstituiert werden.

Die klassischen Ästhetiken sind heute nicht mehr funktionstüchtig, wenn man sie so versteht, als verlagerten sie über Stilschöpfung das Weltbild tatsächlich in die einheitliche Gestaltung aller Objekte. Der letzte Ausläufer solcher Klassik war das Bauhaus, das heute gerade deshalb so radikal kritisiert wird, obwohl seine ganzheitlichen Gestaltungskonzeptionen den vereinzelten Gestaltungsprinzipien heutiger Umweltgestaltung weit überlegen zu sein scheinen.

Nun gibt es Handlungsbereiche, in denen das Externalisierungsproblem zum wesentlichsten Gegenstand von Arbeit gemacht wurde, so zum Beispiel in den Künsten. Im Alltagsleben wären solche vorgeführten, ja erfundenen und exemplarisch gehandhabten Externalisierungsformen – übernähme man sie direkt – nur dazu brauchbar, wiederum künstlerisch tätig zu werden. Die Ästhetik hat zu den Künsten nur insofern unmittelbare Beziehungen, als sie deren exemplarische Externalisierungsformen als Reservoir nutzt mit der Absicht, diese Externalisierungstechniken als allgemeine kulturelle Fähigkeiten im Alltag der Nichtkünstler zur Verfügung zu stellen.

In dieser Hinsicht unterliegen die Künste heute beständig einer gewissen Aufhebungstendenz, nämlich der Verpflichtung, sich als Kulturtechniken nutzen lassen zu müssen. Gerade um diesen Nutzen haben zu können, müssen sie andererseits aber als bloße Künste weiterentwickelt werden, völlig unabhängig von den Anforderungen, die die jeweiligen Gesellschaften an die Entwicklung von Kulturtechniken stellen.****

Die Vielfalt der Externalisierungsformen bedarf keiner grundsätzlichen Rechtfertigung, denn sie ist notwendig, wenn gerade nicht Ganzheit über bloße einheitliche Gestaltung der Objektwelt vergegenständlicht werden soll. Auf die Minimalvoraussetzungen aber muß ausdrücklich hingewiesen werden. Ohne in unbilliger Weise Tierverhaltensforschung auf Menschen hin anwenden zu wollen, muß man aber sagen, daß die Verhaltensforschung als erste – angestoßen durch die Gestaltpsychologie – auf die anthropologischen Grundfunktionen der Ästhetik hingewiesen hat, auf die bereits BAUMGARTEN abgehoben hatte. Von HOLST entdeckte die Eigentätigkeit des Zentralnervensystems, wodurch die klassischen Stimulus-Response-Theorien endlich überwunden werden konnten. Es besteht kein Zweifel, daß solche Appetenz, solche zentralnervös produzierte Aktionsbereitschaft auch für den Menschen anzunehmen ist. Um dieses Potential in manifeste Haltungen und Handlungen zu überführen, bedürfen die Menschen in ihrer materiellen Lebensumgebung bestimmter Objektfigurationen, die als Auslöser der Externalisierung fungieren. Anstelle der bei den Tieren vor allem instinktiv vorgegebenen Prägungen sind beim Menschen vor allem durch Internalisierung vorgegebene Prägungen bestimmend.

Der alte normative Schönheitsbegriff – also das bloße ästhetische Urteil – hat insofern tatsächlich eine Funktion, als der Urteilende mit seinem Urteil "Das ist schön" zu verstehen gibt, daß der Gegenstand seines Urteils (eine Objektfiguration seiner Lebensumgebung) von ihm als Auslöser der Externalisierung genutzt werden kann, und zwar im allgemeinen Sinne eines positiv affektiven oder sinnlich lustvollen Wiederholungswunsches des immer gleichen Auslösereffekts. Die von Natur gegebene Sättigung und damit Unterbrechung des Wiederholungsverlangens erzwingt den Übergang von der einzelnen Objektfiguration und ihrem Auslösereffekt zu dem in ihm vergegenständlichten Hinweis auf den Gesamtzusammenhang, erzwingt also die Konstitution des ästhetischen Begründungszusammenhangs.

Welchen Nutzen bringt diese Konstitution? Auf der hier angesprochenen untersten physiologischen Begründung des ästhetischen Prozesses liegt der Nutzen darin, daß die Sättigungs- oder Ekelschwelle weit hinausgeschoben wird, so daß durch die subjektvermittelte Ganzheitserfahrung das limbische System wiederum bedient werden kann. Ganzheitsvorstellungen sind, physiologisch gesehen, Leistungen des Großhirns, dessen Evolution dem limbischen System Stimulierungen ermöglichte, wie sie dem Tier natürlicherweise vorgegebene Umwelten nicht zu bieten vermögen. Wie gesagt, Begründungen dieses Typs gelten nur im Hinblick auf die physiologisch bestimmte Grundlegung des ästhetischen Prozesses. Aus ihnen läßt sich nur seine Unabweisbarkeit verstehen, nicht jedoch seine konkreten historischen Ausformungen.

Paetus THRASEA wurde von NERO zum Tode verurteilt, weil er ein verdrießliches Gesicht wie ein Lehrer machte.
„Gestern hat einer zu mir gesagt, ich sei ein Ästhet – da hab’ ich ihn zusammengeschlagen.“ Der Freund bestürzt: „Aber das war doch keine Beleidigung.“ „Weiß ich auch, aber in der ersten Wut …“

* Vgl. auch den Beitrag „Wieder Gold und Edelsteine …“ (in Band II, Teil 5.7)
** Vgl. den Abschnitt „Toposbildung – der Zwang zur Vergegenständlichung“ (in diesem Band, Teil 2.2.3)
*** Vgl. auch den Abschnitt „Was heißt Objektivität?“ (in diesem Band, Teil 1.5.8)
**** Vgl. dazu „Die Kunst in der Gesellschaft von morgen“ (in Band II, Teil 1.1.5)