Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 384 im Original

Band II.Teil 5.4 Dreh dich endlich um, Kerl

– Ein Versuch, Caspar David FRIEDRICHs Rückenfiguren ins Gesicht zu sehen

Aufsatz für die FRANKFURTER RUNDSCHAU, 5.10.1974, anläßlich der Caspar-David-Friedrich-Ausstelllung in der Kunsthalle, Hamburg

4.1 Der Blick ins Bild

Eine marschgrüne Wiese, saftig zum Reinbeißen. Wenigstens sich fallenlassen, einwachsen, das Gesicht nach unten. Ein kopfgroßer Stein, regengewaschen. Der Stein wird gehoben, der Kopf wird gewendet. Das Gesicht ist ein Loch in der Welt. Modrig verschleimt, beklebt mit fetten Regenwürmern und Schnecken.

Der Verdacht liegt nahe, daß man sich lange Zeit dagegen gewehrt hat, die Friedrichschen Rückenfiguren umzudrehen, weil man den Anblick der vermoderten Fratzen scheute, denen man auch bei Friedrich zu begegnen glaubte, solange man ihn für einen Romantiker hielt und man sich angelegen sein ließ, die Romantik mit jenen literarischen Kennzeichnungen zu belegen, die beispielsweise E.T.A. HOFFMANN geprägt hat. Für diese Tradition stehen bis in unsere Zeit Namen wie DALI, Max ERNST und selbst MAGRITTE, deren Umkehrungen des Friedrichschen Blicks bestenfalls in Illustrationen zu unseren abgehobelten Physiognomien endeten. Auch die sich auf GOETHE berufende Tradition der Sicht auf die Rückenfigur näherte sich dem 'Schrecken der Leere', wenn sie nicht überhaupt die Rückenfigur bloß als eine Staffage, als ein ganz formal benutztes Bildelement ansah. Den Zeitgenossen Friedrichs war die von ihm immer wieder ins Bild gebrachte Rückenfigur ein Ärgernis, eine Marotte, eine Laune oder gar Gestaltungsohnmacht des Künstlers.

Die positivste Auffassung der Rückenfigur nahm sie für eine Anleitung des Bildbetrachters, es dem im Bild gezeigten Betrachter nachzutun, so wie er ins Bild hineinzublicken. Offensichtlich gab es damals bereits eine Notwendigkeit, die Rezeption, die Annäherung ans Bild als Thema eines Bildes zu verstehen. Wo die handlungsbetonten Schilderungen der klassizistischen Tradition den Betrachter aufforderten, sich aktiv in die Handlung einzuschalten, ihr tätigkeitsstimulierende Impulse zu entnehmen, konnte der Verzicht auf die Abschilderung von Geschehen und menschlicher Tätigkeit bei Friedrich als eine Einladung zur passiven Rezeption erscheinen, die bestenfalls Kontemplation und Selbstbezug des Betrachters abwarf. Die Friedrichschen Bilder erhielten dadurch den Charakter von Gegenständen sakraler Exerzitien. Dagegen wandte sich schon früh die zeitgenössische Kritik, als Friedrich eines seiner Bilder als Bestandteil eines Altars malte.

Die Auffassung, daß die Rückenfigur bloße Rezeptionsanleitung geben wolle, führt folgerichtig zur Kritik an dem eingeschränkten, fesselnden Subjektivismus Friedrichs, da sie den Betrachter zur Identifikation mit dem im Bild dargestellten Betrachter zwinge. Wer nicht so ins Bild sehe wie die Friedrichsche Rückenfigur, dem müsse entgehen, was Friedrich möglicherweise zu sagen habe.

Die Anleitung zum 'Blick ins Bild', versteht man sie als eine mögliche Absicht des Malers, stellt immerhin eine Erweiterung der Beziehung des Betrachters auf das Bild dar - Erweiterung gegenüber der dominierenden Tradition der Malerei, die sehr eindeutig als 'Blick aus dem Bild' gekennzeichnet worden ist. Zumal die Hauptmeister der Abschilderung eines Weltsegments im 18. Jahrhundert, CANALETTO und BELLOTTO, wendeten konsequent den Blick der dargestellten Figuren aus dem Bild an, um die Aufnahme der Beziehung des Betrachters zum Dargestellten zu intensivieren. Diese Tradition wurde durch einen Hauptzug der Philosophie gestützt, die in BERKELEYs Formulierung "Esse est percepi" (Sein heißt wahrgenommen werden) Alltagswissen der Künstler war. Demgegenüber läßt sich die Friedrichsche, freilich nicht von ihm erfundene, aber systematisch ausgebaute Position als "Esse est percipere" (Sein heißt wahrnehmen) kennzeichnen.

Was die Zeitgenossen nicht verstanden, aber im Gefolge der BAUMGARTENschen und KANTischen Ästhetik hätten verstehen können, ist, daß die Formen der Wahrnehmung tatsächlich fundamentale Bestimmungen eines jeden menschlichen Bezugs auf soziale und natürliche Umwelt sind. Kurz, sie verstanden nicht, daß Wahrnehmen eine aktive Bestimmung des Wahrgenommenen ist, also Form des Handelns und nicht steinern in sich ruhende Kontemplation. In dieser Hinsicht läßt sich die historische Bedeutung des Friedrichschen Blicks ins Bild als Arbeit an der Erkenntnis und Gestaltung dessen verstehen, was im Bild als scheinbar vorgegebener Gegenstand zu sehen ist. Dem entspricht bis in letzte Einzelheiten, wie die Friedrich-Forschung in staunenswerter Weise herausgearbeitet hat, das künstlerische Vorgehen des Malers, der seine Bilder 'synthetisch' erzeugte. Er schilderte nicht ab, was ihm als Bildgegenstand vorgegeben sein konnte, sondern er erzeugte seinen Bildgegenstand (herkömmlich 'Landschaft' genannt), indem er ihn aus einer Mehrzahl von Gestaltfigurationen zusammensetzte.

Die Friedrichsche Anleitung zum Blick ins Bild geheimnist also nicht irgendwelche Gefühlswallungen und seelische Regungen in den dargestellten Weltausschnitt hinein, sondern enthüllt das Konstruktionsprinzip des Bildgegenstandes. Er macht klar, wie Bedeutung entsteht. Es ist Friedrich vorgeworfen bzw., was genauso falsch ist, zu höchster Ehre angerechnet worden, er sei der Maler der Innerlichkeit. Was heißen sollte, daß er den Menschen schildere in seinem Beharren auf dem Selbstbezug und seiner gefühlsmäßigen, seelischen Eigenwahrnehmung. Das Gegenteil trifft zu. Friedrich veräußerlicht, was immer das Innere eines Menschen sein mag, er veröffentlicht dieses Innere, indem er offenlegt, wie Menschen sich auf ihre Umwelt beziehen können und damit diese Umwelt erkennen und prägen. Seine 'Landschaften' sind Vergegenständlichungen menschlicher Wahrnehmung der Außenwelt. Diese Vergegenständlichungen haben gerade aus der Tatsache, daß sie demonstrativ gezeigt werden, etwas von anatomischen Präparaten, Schmetterlingssammlungen oder ähnlichen naturwissenschaftlichen Aufbereitungen von Erkenntnisgegenständen. Die starre, ja definitive Unveränderbarkeit der Friedrichschen Darstellungen hat den Charakter jener an der Ostseeküste weit verbreiteten Bernsteinfunde: Leben, in Harz eingeschlossen.

Der Präparatcharakter der Friedrichschen Bilder hat nichts Manieristisches und Willkürliches, ist nicht bloße Bastlerwelt in der Flasche. Die Welt ist ein abgeschlossener Innenraum, ja noch der Abschluß, die Grenzen sind Bestandteil der Welt. Auch darin ist Friedrich ganz und gar Kantianer, der sich gegen die Paniken seiner Zeitgenossen angesichts der nicht nach Jenseits aufsprengbaren Welt mit äußerster Anstrengung, unter schwerster psychischer Anspannung zu wehren wußte. Daß Friedrich die Flucht ins Jenseits so radikal abschneidet, ist die Ursache dafür, daß er sämtliche Aussagen mythologischer bzw. auch christologischer Provenienz mit größter Eindeutigkeit auf den Bestand der realen Welt selber anwendet. Deshalb kann der verdienstvolle unter den gegenwärtigen Friedrich-Forschern, BÖRSCH-SUPAN, tatsächlich darauf insistieren, daß Aussagen über 'individuellen Tod' und 'kollektive Unsterblichkeit‘, über das 'Glück der Realitätserfahrung"' und die 'Ausdrückbarkeit des Gefühls' in jedem Friedrichschen Bild minutiös abgelesen werden sollen.

Wer sich im Namen rationaler Aufgeklärtheit gegen solche Aussagebestimmung Friedrichscher Bilderwelt wehrt, zeigt damit nur, daß er die Friedrichschen Überlegungen nicht einmal ansatzweise verstanden hat. Gerade eine historisch-materialistische Forschung muß von der konsequenten Verweltlichung tmd Vergegenständlichung der abstrakten Ideen ausgehen, die Friedrich selber im Hinblick auf nicht einmal philosophisch bis dato bestimmbare Begriffe wie Unendlichkeit, Tod, Liebe, Werden und Sein durchgesetzt hat.

4.2 Der Wanderer über dem Nebelmeer - die Grenzen der Wahrnehmung

In den Rückenfiguren Friedrichs Manifestationen naturanbetender, geradezu naturverfallener, jenseitssüchtiger, fast entmaterialisierter Menschen zu sehen, erweist sich nach etwas genauerem Hinsehen als falsch. 'Der Wanderer über dem Nebelmeer' reckt sich nicht wie eine FIDUS-Figur vor der Höhensonne einer mystischen Verwandlung entgegen, sondern zeigt eher die Haltung eines Menschen mit Höhenphobie, der nicht ins Weite hinein die erhabene Unendlichkeit der Natur anschwärmt, wohl aber in deutlicher Distanz zu ihr zu verstehen gibt, daß alles, was uns mit Aussagen und Vermutungen über die Welt hinaustreiben möchte, an die Grenze der Welt stößt; daß an dem, was hier in der Welt vorgefunden wird, jene Aussagen festgemacht werden müssen. Nicht pantheistischer Überlassung an die Natur reden die Bilder das Wort, nicht der Sehnsucht nach Aufgehen und Verschwinden in ihr, sondern sie sind bestimmter, unbezweifelbarer Rückverweis auf die Wahrnehmung, die wir von der Welt haben.

Uns sehen wir, wenn sich die Friedrichsche Rückenfigur umdreht; nicht ein von der Anonymität des Jenseits verschleiertes Gesicht, keine an die Natur verlorene Individualität, sondern 'Wir und das kollektive Ich'.

Denn die Formen der Wahrnehmung, mit denen wir uns in der Welt zurechtfinden, mit denen die Welt unser Lebensraum werden kann, sind nicht subjektivistisch beliebige Schöpfungen, sind nicht genialische Konstruktionen titanischer Übermenschen. Die gewalttätig schöpferische Konstruktion, die die klassizistischen Menschen etwa DAVIDscher Auffassung noch zu leisten versuchen, wird von Friedrich als persönliche Bastelei abqualifiziert. Nicht das Gesicht eines jeweils einzelnen trägt die Rückenfigur, sondern den lebendigen Ausdruck dessen, was 'die Menschen' in einer jeweiligen Zeit und jeweiligen Welt sind_ Heute verstehen wir, wie gut Friedrich die seiner Zeit und seiner Welt sich verdankenden Formen der Weltaneignung wiederzugeben wußte. Sie sind so trennscharf herausgearbeitet, daß selbst wenig geschulte Betrachter das typisch Friedrichsche als die entschiedenste Formulierung der damals allgemeinsten Wahrnehmungen von der Welt erkennen können.

4.3 Die Lebensstufen - die Konstruktion des innerweltlichen Zusammenhangs

An dem hier gewählten Beispiel 'Die Lebensstufen' läßt sich verhältnismäßig einfach und verhältnismäßig unbestreitbar darstellen, wie Friedrich durch die radikale Vergegenständlichung und Verweltlichung abstrakter Ideen Bedeutung hervorbringt.

Im Bildvordergrund ist eine Gruppe von sitzenden, hingelagerten, stehenden und gehenden Figuren zu erkennen, von denen die dem Betrachter nächststehende wiederum eine Rückenfigur ist. Diese Figur, auf einen Stock gestützt, in einen grauen Pelz gehüllt, mit einem Barett behütet, ist dem Ausdruck ihrer Haltung und Kleidung nach ein schon älterer Mann. Ihm gegenüber steht ein Mann in den besten Jahren, der den Alten ansieht und mit seiner Rechten ihm ein Zeichen gibt. Er vollführt mit seinem Körper eine leichte Drehung nach rechts. Die Linke des Mannes vollzieht eine Hinweisgeste schräg nach unten, wo auf dem Ufer zwei Kinder sich um eine schwedische Fahne spielerisch balgen. Neben den Kindern lagert, auf den linken Arm gestützt, eine junge Frau, die offensichtlich gerade auf die beiden Kinder begütigend einwirkt, indem sie die Hand nach ihnen ausstreckt und wahrscheinlich mit ihnen spricht.
An der Küste und auf dem Meer bewegen sich fünf Schiffe, deren Bewegungsrichtung auf das Ufer hin geht. Zwei dieser Schiffe sind ihrer Bauart nach nur für die Benutzung in unmittelbarer Nähe der Küste geeignet. Von den großen Schiffen ist eines bereits der Küste sehr nahe, es hat seine Fahrt verlangsamt durch das Reffen einiger Segel. Auch das etwas weiter entfernte zweite große Schiff beginnt bereits mit dem Einziehen eines Segels, nur das letzte, am weitesten entfernte bewegt sich noch mit voller Geschwindigkeit auf die Küste zu.

Die aus der Alltagserfahrung dem Dargestellten zu entnehmenden Bedeutungen, nämlich 'eine Familie lagert am Ufer' und 'Schiffe nähern sich der Küste', werden von Friedrich miteinander verkoppelt. Sie werden gegeneinander austauschbar, wenn jeder der dargestellten Personen ein Schiff zugeordnet wird: dem alten Mann das der Küste nächste, nur noch langsam sich fortbewegende große Schiff; den beiden Kindern die Küstenfahrzeuge; dem Mann im besten Alter jenes seine Fahrt gerade verlangsamende, aber noch weiter entfernte meerestüchtige Schiff; der jungen Frau das entfernteste, unter vollen Segeln stehende.

Der Austausch der Bedeutungsebenen läßt uns die Beziehung der Menschen auf eine Aussage hin formulieren, die in der Bestimmung der Gruppe als 'Familie beim Sonntagsausflug' nicht im Vordergrund steht, nämlich die Bestimmung der Nähe und Ferne dieser Personen im Hinblick auf einen Endpunkt ihrer Entwicklung, auf den sie alle zusteuern: auf das Alter. Nicht nur sind Menschen unterschiedlichen Alters im Hinblick auf diesen Unterschied dargestellt, sondern jeder Mensch nimmt im Lauf seines Lebens jede der dargestellten Altersstufen ein: so wie ja ein Schiff in der weiten Ferne und ein Schiff in der näheren Ferne und ein Schiff ganz nah nicht einfach nur die relative Entfernung der Schiffe untereinander meint, sondern sagt, daß jedes Schiff einmal jenes ganz ferne, dann nähere und schließlich ganz nahe ist. Die Entstehung der Bedeutung in dem dargestellten Blickfeld muß unterschieden werden von der Bedeutung des Dargestellten. Bedeutung im Dargestellten erzeugt sich nur aus der wechselseitigen Übertragung der Bedeutungen des Dargestellten. Die Bedeutungen des Dargestellten sind einmal: Schiffe bewegen sich über die See an eine Küste, und zwar mit Notwendigkeit, da Schiffe, die nicht an Küsten anlanden, sinnlose Gegenstände sind, auf jeden Fall nicht Schiffe. Zum anderen ist die Bedeutung des Dargestellten auf die Tatsache begründet, daß Menschen mit Notwendigkeit älter werden, bis sie schließlich sterben. Ein Mensch jenseits dieser Notwendigkeit wäre kein Mensch, sondern ein konserviertes Präparat.

Die abstrakte Idee 'Veränderung als zielausgerichteter Prozeß' wird als Aussage über strikt innerweltliches Geschehen ausgedrückt. Ja, mit Friedrich läßt sich, was wir hier nicht tun können, zeigen, daß Abstrakta nur ausgedrückt und inhaltlich werden können, indem man das innerweltliche Geschehen bedeutend macht, d.h. ihm eine Bedeutung im Hinblick auf etwas gibt, was in dem einzelnen Moment dieses Geschehens nicht vorhanden ist, sondern sich erst aus dem gesamten Prozeß ergibt.

Man muß also lernen, die Einzelmomente als Momente eines Prozesses zu verstehen; es wird die Bedeutung nicht willkürlich von außen den einzelnen beliebigen Momenten aufgeklatscht, sondern aus dem konstruierten Zusammenhang der Einzelmomente entwickelt. Die Bedeutung ist der konstruierte Zusammenhang. In dieser Hinsicht besteht zwischen Friedrichs Vorgehen und dem der klassizistischen Tradition hohe Übereinstimmung, weil, wie wir heute wissen, Bedeutung auf keine andere Weise erzeugt werden kann als durch die Konstruktion von Zusammenhang im innerweltlichen Geschehen.

Das haben die Griechen, auf die alle klassizistischen Traditionen zurückgehen, sogar schon eindeutig im Hinblick auf so abstrakte Vorstellungen wie die von den Göttern geleistet. Das Christentum hat sich dieser einzig sinnvollen Bemühung um Bedeutung angeschlossen, indem es die Aussagen über Gott vollständig an die Aussagen über das innerweltliche Leben Christi geknüpft hat.

Von hier aus läßt sich eindeutig jeder Versuch abweisen, Friedrich für die nachnapoleonische Restauration in Beschlag zu nehmen, deren politische, religiöse, künstlerische Deutungsversuche ja wieder auf das Vehikel außerweltlicher Bezugsgrößen angewiesen sind.

Man kann behaupten, daß die bürgerliche Revolution und ihre Intentionen im wesentlichen in klassizistischen Ausdruckstraditionen zur Sprache gebracht wurden, und daß die nachnapoleonische Restauration in den sogenannten gotischen Ausdruckstraditionen manifest wurde, zumal dann, wenn man die immer wieder vorgetragenen Auffassungen unbesehen übernimmt, denen zufolge nachnapoleonischer Nationalismus mit Restauration identisch sei. Friedrich hat diese Auffassung als oberflächlich durchschaubar gemacht. Die gotisch-romantischen und griechisch-klassizistischen Ausdruckstraditionen sind im Hinblick darauf, wie mit ihnen Bedeutung hervorgebracht werden kann, in völliger Übereinstimmung. Friedrich zeigt, daß wir Ausdrucksformen und Bedeutung verwechselt haben, wie wir heute noch Revolution mit bestimmten Ausdrucksformen politischen Handelns gleichsetzen und nicht auf ihrer Bedeutung bestehen. Ebensowenig wie Revolution in dem aufgeht, was die Ausdrucksformen politischen Handelns zwischen 1789 und 1794 waren, geht der sogenannte Friedrichsche Nationalismus in dem auf, was die Ausdrucksformen METTERNICHscher Restauration waren. Wer diesen Unterschied nicht sieht. kann leicht zu der Auffassung kommen, daß Frieürich ein bornierter Nationalist aus eingeschränktestem Blickwinkel sei, ein künstlerischer Spökenkieker, der das bißchen, was er von der damaligen Welt in seinen Bildern dargestellt hat, mit der Welt als Ganzem verwechselte.

Nur noch ein Hinweis: Wer einwendet, daß es gar nicht notwendig sei, die dargestellten Personen mit den Schiffen in der oben skizzierten Weise in Beziehung zu setzen, denn man könne ja ebensogut das ganz nahe Seeschiff mit der jungen Frau und das allerentfernteste mit dem alten Mann koppeln, der übersieht, daß ein in sich sinnvoller Zusammenhang zwischen den Schiffen als Momenten eines Prozesses und den Personen als Momenten eines anderen dann eben nicht möglich ist. Man koppelt ja nicht die Bedeutung der einzelnen dargestellten Schiffe mit den einzelnen dargestellten Menschen, sondern man koppelt den Stellenwert der einzelnen Schiffe in einem möglichen konstruierbaren Zusammenhang, in dem alle Schiffe vorkommen, mit dem Stellenwert des einzelnen Menschen innerhalb eines Zusammenhangs, in dem man alle dargestellten Menschen miteinander sieht. Die Beliebigkeit der möglichen Deutungen ist damit ausgeschlossen.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß heute kein Sonntagsausflug, kein Gang übers Land, keine touristische Exkursion in die Natur, ja kaum eine Werbung, in der was Grünes haust, denkbar ist, ohne daß die Spaziergänger, Produktkäufer, sich von Großstadt Entlastenden dabei Wahrnehmungen in Formen tätigten, die von Friedrich umrissen und systematisch entwickelt worden sind. Wie immer verstümmelt, durch mehr als eindeutige Absichten in Dienst genommen, wir diese Friedrichschen Formen praktizieren, sie bleiben gerade deshalb für unsere Wahrnehmung so bestimmend, weil wir natürlicher Umwelt nur noch in Segmente zerlegt, punktuell, hie und da begegnen können; weil Natur gleichsam nur noch in Bildausschnitten existiert. Es ist sicher richtig, daß zu Friedrichs Zeiten, am Beginn der industriellen Revolution, die Einheit und der Zusammenhang der natürlichen Lebensumgebungen der Gesellschaft bereits als problematisch anzusehen war, ja, als von Zerstörung bedroht. Eine Entwicklung, deren Endpunkt noch lange nicht erreicht ist. So konnte bereits Friedrich in seiner Umformung der Natur zur Landschaft auf eine entscheidende Leistung von Natur für die gesellschaftliche Existenz des Menschen verweisen, nämlich darauf, daß die Natur den gesellschaftlichen Prozessen gegenüber als eine relative Konstante anzusehen ist. Wo nichts konstant bleibt, wenigstens konstant für die kurze Spanne eines menschlichen Lebens, da gibt es keine Heimat. Heimat ist nur das, was sich selbst gleich bleibt, wenigstens so lange, als jeweils einzelne Menschen da sind, die ihre eigene Veränderung an dem sich selbst Gleichbleibenden noch abzuschätzen vermögen.

4.4 Geschichte als Heimat

Nach dem oben Gesagten aber ist es ja nicht die gegenständliche Natur für sich, die Konstante, also Heimat sein kann, sondern die Form unserer Aneignung und unseres Bezuges auf die Natur. Friedrich hat, vor allen Dingen in seinen Ruinenbildern, diese Art der Konstanz gemeint, diese Heimat formuliert; Ruinenbilder, die den Gegenstand der Wahrnehmung als veränderten, ja bereits zerstörten zeigen, als vergangen. Selbstverständlich mußte Friedrich sagen, daß absolute Konstanz nur im sich selbst Gleichbleiben, daß also definitive Heimat nur der Tod sein kann. Aber die Menschen leben nicht als Tote. Die 'Abtei im Eichenwald' verweist auf diesen Gedankengang. Es ist ein synthetisches Bild, sowohl was die Inszenierung der Eichen zu einem Areal anbelangt als auch die der gotischen Ruine (Hinweis auf die Inszenierung der Ruine ist beispielsweise das Maßwerk im Fenster, das bei der Friedrichschen Vorlage 'Eldena' dreiviertel hoch zugemauert war).

Solche Inszenierungen hat Friedrich immer wieder gerade im Hinblick auf Architektur (vor allem Denkmäler) betrieben. In ihnen nähert er sich am eindeutigsten jenem anderen großen deutschen Künstler seiner Zeit, Karl Friedrich SCHINKEL, der die Synthese von Klassizismus und Gotik, von Revolution und Nationalismus, zum ausschließlichen Thema seiner Arbeit machte. Sein Kollege SCHADOW hat Friedrich scharf kritisiert, er habe in solchen Bildern "einen Nachtwächterton angegeben, der noch widerhallt in Klosterkirchhöfen, die verschneit sind und wo vermummte Puppen herumschleichen". Solche Urteile im SCHADOWschen Tonfall zu qualifizieren, hieße die Klassizisten SCHADOWscher Provenienz als Bisquitbäcker auszulachen. Bei Friedrich gab's nichts zu schlecken und zu schlürfen, ebensowenig wie bei Claude LORRAIN oder VERMEER, die zu ihrer Zeit genau die Position Friedrichs einnahmen.

Um das Absurde solcher SCHADOWscher Urteile recht deutlich zu machen, sei daran erinnert, daß selbst INGRES von der zeitgenössischen Kritik als 'Gotiker und Schüler Jan van EYCKs' abqualifiziert werden sollte.

Es gibt nichts Humaneres als den Versuch, selbst an Ruinen zu zeigen, was konstant bleibt. Ja, mit Friedrich und einer langen Tradition vor ihm läßt sich sagen, daß nur die Trümmer sich selbst gleich bleiben und damit Zielpunkt derer sind, die ihre Heimat suchen. Seit MANTEGNAs, BRUNELLESCHIs, ALBERTIs Reisen in die Trümmer Roms gilt dieser Begriff von Heimat als der einzig ernstzunehmende. Nicht aber, um zurückzukehren, wohin man, da es in Trümmern liegt, nicht zurückkehren kann, sondern um jedes zukünftige Handeln auf Kritik an sich selbst zu verpflichten.

Daß Friedrich solches zukünftige Handeln analysiert, als wäre es bereits ein vergangenes, veranlaßte das 19. Jahrhundert, ihn als Quertreiber links liegen zu lassen. Man fühlte sich von seiner Kritik wie gelähmt. Denn seine Kritik traf und trifft uns heute.

siehe auch: