Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 483 im Original

Band III.Teil 3.1 Körpersprache

Bemerkungen zur Körperplastik, Körperbemalung und Körpersprache in ‚primitiven‘ Gesellschaften und was daraus gegenwärtig gemacht wird

Katalogbeitrag zur Ausstellung 'Bodyart' im Frankfurter Kunstverein, 1975. Der Artikel ist die erweiterte und überarbeitete Fassung einer früheren Rezension der Arbeiten von Rebecca HORN in der von Friedrich Wolfram HEUBACH herausgegebenen Zeitschrift INTERFUNKTlONEN 8, 1971, unter dem Titel 'Wiederholte Anmerkungen zur Körperplastik und Körperbemalung'. Zu den Einhol-, Rückftihr- und Aufhebungstendenzen der Kunst vgl. in allgemeinerem Kontext 'Instant-Thoughts!Nessätze - Ein Elixier ftir Begriffsstutzige' (in Band Il, Teil 1, 5).

1.1 Drei Tendenzen im Verhältnis Kunst : Nichtkunst

Mit dem Generalnenner 'Bodyart' werden seit einigen Jahren Aktivitäten zeitgenössischer Künstler gekennzeichnet; Aktivitäten, die in Struktur und Funktion der Wahrnehmung und Verwendung des menschlichen Körpers in frühen Gesellschaften vergleichbar sind. Daß verglichen wird, besagt nicht, das Verglichene sei gleich. Auch soll der Vergleich nicht das Verglichene gleichmachen. Sollte der Vergleich zeigen, daß das Verglichene in Struktur und Funktion tatsächlich 'vergleichbar' ist, darf daraus immer noch nicht gefolgert werden, das Verglichene sei das gleiche; eine Schlußfolgerung, die nur allzuhäufig aus dem Vergleich früherer und gegenwärtiger Gesellschaften gezogen wird.

Der hier angestellte Vergleich soll vielmehr eine weitergehende Bestimmung der 'Bodyart' ermöglichen, als sie bisher vorliegt. Bisher wurde versucht, 'Bodyart' als eine neue Kunstform darzustellen. Diese Versuche fielen mager aus, weil ja in gewisser Hinsicht jede künstlerische Tätigkeit als Bodyart bestimmt werden kann: das Theater allemal, auch jede Form des Musikmachens (ob nun als Aufführung eines Streichquartetts oder als Inszenierung KAGELscher Musikgedanken), actionpainting und actionteaching sind Bodyart, Happenings, aber auch die 'klassischen' Vorgehensweisen eines Tafelbildmalers, der zumindest 'Bodyart' darstellt.

Eines darf aber wohl gesagt werden, daß nämlich alle Künste heute zur Auseinandersetzung mit jenen Tätigkeiten gezwungen sind, die nicht als künstlerische gelten, sondern Nichtkunst-Alltagspraxis sind. Mit Nachdruck soll hier die 'Künstlerkunst' als hochkulturelI, die kunstvollen Praktiken des Alltags aber als subkulturell bezeichnet werden. Der Nachdruck gilt der Zweifelhaftigkeit solcher üblicher Untersuchung, die aber immerhin gerade deshalb als erhellend angesehen werden kann.
HochkultureIl sind also die professionalisierten Tätigkeiten von Leuten, die Kunst als Beruf ausüben.
SubkultureIl sind die Tätigkeiten von Leuten, die in einem Teilbereich ihrer Alltagspraxis zu erlernende Kunstfertigkeiten anwenden - die Resultate ihrer kunstfertigen Tätigkeit aber nicht aus den alltäglichen Lebensformen herausnehmen, um ihnen eine Bedeutung zu geben, die über den Teilbereich hinausreicht, aus dem sie entstanden sind. Als subkultureIl würden also gegenwärtig etwa die Kosmetik, die Mode, die Werbung, die Illustrierten oder der Bereich der Unterhaltung zu kennzeichnen sein.

Das Verhältnis von Kunst zu Nichtkunst, von KünstIerkunst zu Praktiken des Alltagslebens bestimmen heute drei Tendenzen:

  1. die Einholtendenz
  2. die Rückführtendenz
  3. die Aufhebungstendenz

Unter Einholtendenz fallen die Bemühungen der Kunst, sich die Bereiche der Subkultur, des Profanen und Alltäglichen, des Massenhaften und Anonymen anzugliedern - sie in sich aufzunehmen als Kunst. Als Beispiel für die unter die Einholtendenz fallenden künstlerischen Produktionen sei die Pop-art erwähnt, deren Name selbst auf die hochkulturelle Erschließung subkultureller Erscheinungen verweist. In ihr werden Oberflächen des allgemeinen, industriegesellschaftlichen Lebens - soweit sie bildlich gegenständlich sind - als Tafelbilder gerahmt.

Beispiel für die Rückführtendenz ist das Happening: die hochkulturellen Äußerungsformen der Kunst - etwa als theatralische Ereignisinszenierung - werden auf die Ebene unmittelbarer Lebensäußerung zurückgebracht; die Kunst wird zurückgenommen auf die Ebene materialer Lebensreproduktion; sie verschwindet im alltäglich massenhaft veranstalteten Ereignis 'Leben'. Dabei ist zu beachten, was die Formulierung 'Kunst = Leben', in der beispielsweise VOSTELL sein Künstlerbekenntnis wiedererkennt, nahelegt: Auch die auf die materiale Ebene der Lebensreproduktion zurückgenommene Kunst soll Kunst bleiben.

Die Einholtendenz und Rückführtendenz sind deutlich von der Aufhebungstendenz zu unterscheiden, die ein objektives historisches Moment der Kunst bezeichnet: das Aufheben der Kunst durch Selbsterfüllung, was meint, daß die Kunst sich in dem historischen Augenblick selber abschafft, in welchem ihre Inhalte allgemein gesellschaftliche geworden sind; Aufhebung der Kunst aber auch dadurch, daß Kunst gar nicht mehr in der Lage ist, allgemein gesellschaftlich bedeutsame Inhalte herzustellen. Aufhebung durch Versagen und Verstummen.

Das Einholen des Alltags in die Kunst als Kunst ist der gegenwärtig allenthalben zu beobachtende Versuch des Systems Kunst, sich vor dem historischen Schicksal des Verschwindens zu bewahren. Ausweglosigkeit macht mutig: geradezu todesmutig soll der Behauptungsanspruch der Kunst durch Einverleiben des Alltags ausgewiesen werden. Dementgegen wäre es wohl von unüberbietbarem Nutzen für die Zukünfte, die Würde des Vergehens, des geschichtlichen Überwundenwerdens zu demonstrieren; zu zeigen, wie sich das Rad der Geschichte dorthin bewegt, wohin die Wagenlenker, die Menschen, es haben wollen. Große Kunst sichert nur noch die Spuren, die besagtes Rad hinterläßt: denn erst die weit nach hinten verfolgbare Spur erschließt die augenblickliche Bewegungsrichtung.

Es versteht sich von selbst, daß nur wenige Künstler überhaupt subjektiv die Voraussetzungen erfüllen wollen, um sich der höchst anstrengenden, abstrakten, theoretischen Arbeit zur Entfaltung der Aufhebungstendenz anzuschließen - geschweige denn, daß sie objektiv auch dazu in der Lage wären. (Theoretisch darf hier nicht eingeschränkt verstanden werden als wortsprachliche Äußerung; gemeint sind auch theoretische Objekte, wie der Autor sie eingeführt hat.)

Das gemeine Talent, der Dennochkünstler, äußert sich heute im Bereich der Einhol- und Rückführtendenz. Und gerade augenblicklich wird da wieder etwas Neues eingeholt aus dem alltäglichen sozialen Funktions- und Gegenstandsbereich: nämlich die Kleidung und die Kosmetik, der Schmuck und das Ritual informeller Kommunikation.

Das Eingeholte hat auch schon Namen: bodyplastics, bodyart, bodypainting/Körperplastik, Körperbemalung, Körperkunst. Durch solches Erfinden neuer Namen und das beständige Wiederholen wird vorgegeben, etwas substantiell Neues, dennoch in sich Geschlossenes und Eigenständiges gefunden zu haben - was nötig ist, um Kunstfreunden die relativ risikoreichen Neuinvestitionen abschwatzen zu können.

1.2 Funktionen der Körpersprache

Um die unter dem Etikett 'Bodyart' in die gegenwärtige Kunst eingebrachten alltäglichen Lebenspraktiken nach Funktion und Struktur näher kennzeichnen zu können, sollen sie hier mit entsprechenden Lebenspraktiken früherer Gesellschaften verglichen werden. Als primitiv geIten beispielsweise Jäger- und Sammlergesellschaften, weil man zu wissen glaubt, daß jene Gesellschaften kein Geschichtsbewußtsein hatten; daß selbst ihre Vorstellungen von der Entstehung des Kosmos ahistorisch seien, da in ihnen nur der Zeitbegriff 'früher' vorkomme; daß die Mitglieder jener Gesellschaften sich nicht als Subjekte erlebten, sondern als ununterscheidbare Bestandteile eines Kollektivs - und was dergleichen nichtbegründbarer Annahmen mehr sind. Zu solchen Annahmen kam es, weil die 'nicht primitiven', sondern entwickelten Gesellschaften ihr eigenes Geschichtsverständnis nur durch die Konstruktion einer Entwicklungsvorstellung gewinnen konnten, die 'Entfernung vom Anfang' beschreibt. Historische Differenz ist jedoch mehr als Zeitdifferenz: sie betrifft die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit von Gewesenem, ganz gleich, was jenes Gewesene aus sich heraus sein mochte. Für die frühen Gesellschaften war das Gewesene ebenfalls etwas Unumkehrbares, so wie etwa die Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter unumkehrbar ist und wie die Stadien des Menschenlebens unumkehrbar sind. Sie hielten es aber für möglich, das Gewesene (vor allem als Schuld) aus der Erinnerung der Gemeinschaft zu löschen - ein Gedanke, der in unserem archaischsten Gesellschaftsbereich, dem der Rechtsprechung und des Rechtsvollzugs, bis in die jüngste Zeit noch vorherrschte: wenn ein Verbrecher für seine Tat die ihm auferlegte Gefängnisstrafe abgebüßt hatte, konnte er sich selbst wieder wie jemand verhalten, der keine Tat begangen hat. Die Tat wurde gelöscht.

Bei einer solchen Weltauffassung spielten Tatauierung, Narbung, Bemalung sowie die an den Körper gebundenen Federn, Hölzer, Zähne, Knochen, Steine und Erden, die ihrerseits wieder bemalt, genarbt, gekerbt sein konnten, eine große Rolle. Sie erfüllten etwa die Funktionen wie Mode, Kosmetik, Schmuck und die vom Einzelnen verwendeten Geräte gesellschaftlicher Kommunikation heute. Diese Funktionen werden hier in folgender Weise unterschieden:

  1. Objektivationsleistung
  2. Homogenisierungsleistung
  3. Differenzierungsleistung
  4. Komplettierungsleistung
  5. Transformationsleistung

zu a Objektivationsleistungen:
Aus Gräberfunden ist bekannt, daß bemalten und tatauierten Toten Spiegel mitgegeben wurden. Daraus darf geschlossen werden, daß bereits für die Angehörigen früher Kulturen Selbstwahrnehmung bedeutsam gewesen sein muß. Da es sich aber um bemalte und tatauierte Tote handelt, galt diese Selbstwahrnehmung nicht der individuellen Besonderheit des Einzelnen (die ohnehin gegeben war), sondern der Wahrnehmung des Einzelnen als Mitglied der Gemeinschaft. Die Objektivation bestand darin, sich selbst wie einem anderen entgegentreten zu können und sich als soziales Wesen durch den anderen zu definieren. Die Objektivationsleistung bestand in der Generalisierung des anderen, wie MEAD sagt. Das bedeutet, daß auch jene Menschen sich als notwendig selbstentfremdet erfahren haben müssen, daß also die Differenz zwischen Gesellschaft und Individuum bereits bewußt war. In der konkreten Situation ihres Alltagslebens haben Körperbemalung, Körperbehängung und Körperstilisierung das Verhalten des Einzelnen in dem Sinne objektiviert, daß die anderen an der Körperpräparierung ablesen konnten, wie sich jemand verhalten würde; umgekehrt wurde der Einzelne durch die Körperpräparierung selbst zu einem bestimmten typisierten Verhalten gezwungen, in dem die Erwartungen der anderen vorweggenommen waren.

Das setzt voraus, daß die Körperpräparierung nicht willkürlich, im heutigen Sinne der eigenen künstlerischen Phantasie folgte, sondern höchstens als Variation eines vorgegebenen Musters verstanden werden konnte. Aus diesem Grunde ist es wenig sinnvoll, jene Form der Körperpräparierung als künstlerische Leistung des Einzelnen zu bewerten. Weil aber die Körperpräparierung weitgehend an kollektiv wichtige Ereignisse gekoppelt ist, bleibt das Individuum als Subjekt hinter der Maske bzw. der Ähnlichkeit mit den anderen unsichtbar, woraus leider immer wieder der Schluß gezogen wird, Mitglieder solcher Gesellschaften hätten sich selbst nicht als Einzelne gegenüber dem Kollektiv auffassen und entfalten können.

zu b Homogenisierung und c Differenzierung:
Selbstentfremdung durch Objektivation in sozialen Zeichen der Körperpräparierung ist Voraussetzung für die Entwicklung höher differenzierter sozialer Beziehungen. Im Zuge der evolutiönären Entwicklung sind kollektive Lebensformen aus ökonomischen Gründen relativ spät ausgebildet worden, denn Kollektivität setzt hochgradige Differenzierung der sozialen Beziehungen und Rollen voraus.

Körperpräparierungen haben funktionale Leistungen erbracht, weil sie die Entstehung homogener Gruppen förderten, in denen dann differenzierte, arbeitsteilige Prozesse organisiert werden konnten.

Die Vereinheitlichung der Äußerungsformen aller Mitglieder einer Gruppe ist besonders wichtig für die nur kollektiv zu erbringenden Arbeiten (Großtierjagd). Arbeit im Kollektiv ist nur sinnvoll, wenn sie Arbeitsteiligkeit ermöglicht. So ist die Einheitlichkeit des Ausdrucks von Gruppen Voraussetzung für die Kennzeichnung differenzierter Funktionen, die in der Gruppe herrschen - und die ihre Überlegenheit über andere sichert. Solche Einheitlichkeit (Homogenisierung) hatten Körperbemalung usw. (vor allem die Totems) zu sichern. Differenzierung erreichte man durch strikte und scharfe Ausgrenzung der Funktionsbereiche (Häuptlingskopfputz, Zaubererumhang, Kriegsbemalung usw.). Solche Differenzierungsleistung erstreckte sich nicht nur auf Sektoren oder Mitglieder einer sozialen Einheit, sondern auch auf ganze soziale Einheiten untereinander. Als Beispiel: Begegneten sich übereinander nicht unterrichtete Gruppen oder Gruppenmitglieder, so mußte klärbar sein, ob es sich um Feinde oder friedliche Nachbarn handelte. Die Klärung dieser Frage hatte zu erfolgen, solange noch eine Fluchtchance bestand - auf Distanzen, die über wortsprachlich überbrückbare hinausgingen, also durch die Bildzeichen der Körperpräparierung.

zu d Komplettierungsleistung:
Sobald Einzelne in homogenisierten Gruppen begrenzte (spezialistische) Rollen ausübten und auf diese Rollen beschränkt wurden, mußten sie - um nicht selbst für beschränkt gehalten zu werden - Hintergrundinformationen über sich zur Verfügung stellen, aus denen sichtbar wurde, was sie über die spezialisierte Rollentätigkeit hinaus noch zu leisten in der Lage waren. Dazu gehört der Rückverweis auf Ahnen, aufs Mana und die eigene Medizin, auf den Blutsbruder. Diese Komplettierungen wirkten als Selbsterhöhungen des Individuums.

zu e Transformation:
Schließlich ist auf die Transformationsleistung von Körperbemalung usw. zu verweisen. Bemalungsmustern sind Bedeutungen zugeordnet. Ursprünglich entspringt die Körperhaltung in Bewegung und Ruhe aus aktualen Prozessen, an denen der Körpereigner partizipiert: Freude, Angst, langandauernde Anstrengung, kurzfristige Maximierung der Leistung usw. sind in Körperhaltungen ausgedrückt. Solcher AktualverIauf kann aber nicht auf Dauer gestellt werden. Der Ausdruck für ihn wird erst im Zeichen, im Symbol auf Dauer gestellt. Zum Beispiel kann der Ausdruck wildester Entschlossenheit und furchteinflößender Beseeltheit in sozialen Interaktionen wie im Kampf nicht beständig auf einem dem Feinde zugewandten Gesicht erhalten bleiben: er wird durch Gesichtsbemalung aufrechterhalten. Die Bemalungsmuster sind symbolfähig; d.h. sie vermögen über das Gelten eines Aktualprozesses hinaus dessen Bedeutung auszudrücken.

Symbolfähigkeit gilt vor allem für die an den Körper gebundenen oder in Verbindung mit ihm auftretenden Dinge. Denn nur auf der symbolischen Ebene ist die Transformation von Aussagen (Bedeutungen) ineinander möglich: nur durch Symbolbildung kann die Realitätsebene gewechselt werden; etwa die Verlebendigung, die animistische Belebung eines Materials. Transformation ist nicht Ersatz für Realität, sondern ist klassifikatorische Zuordnung. Ein Fetisch ist ein Objekt, das durch Zuordnung auf einen Vorgang oder Zustand lebendig, reaktiv, machtvoll wird. Solche Zuordnung ist auch durch unsere Wahrnehmungsmuster bedingt: breite Schultern = kraftvoll, überlegen, gefährlich. Großer Kopf, kleiner Rumpf= hilfsbedürftig, fürsorgeheischend.

Transformation ist Übertragungsvermögen, Analogieschluß: im Grunde schon höchst fortschrittliche Umgangsweise mit der Natur: ganz innerweltlich, ganz auf das Gesetz der Wahrscheinlichkeit ausgerichtet. Dauer als Wiederholung wird mittels Fetisch gesichert, indem immer erneut der gleiche Anlaß und Umstand geschaffen wird, aus dem die einmal geglückte Bewegung hervorging.

In der Transformationsleistung der Körperbemalung usw., die hier als Fetischbildung bezeichnet wird, stecken Vermittlungsmodelle, die wir erst spät wiederentdeckt haben, z.B. als Autokommunikation, die bis zur krankhaften Fetischabhängigkeit reichen kann.

Wie werden die fünf genannten Funktionen in der heutige Lebenspraxis erfüllt?

zu a Objektivation:
Wie erlebt man heute und wie drückt man aus, daß man selbst Teil der Gesellschaft ist? Daß man selbst einer unter anderen ist? Daß man durch die Beziehung zu anderen definiert ist? Diese Objektivation wird heute nicht mehr durch die Selbstdarstellung des Einzelnen repräsentiert, sondern wird durch die sozialen Institutionen definiert, an die man gebunden ist. Die Objektivation steckt in der Tatsache, daß man Steuerzahler, Sozialversicherter, Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Kirchenmitglied oder Vereinsangehöriger ist.

zu b Homogenisierung und c Differenzierung:
Beschränkt man sich hier wieder auf Kleidung, Schmuck, Kosmetik und Kommunikationswerkzeug als Ausdruck der Relation Individuum : Gesellschaft, dann wird die Homogenisierung sichtbar durch das Anlegen von Berufskleidung (z.B. Schornsteinfeger, Ärzte, Soldaten) - hierzu rechnet auch die informelle Uniformierung der höheren Angestellten - ergänzt durch das Tragen eines Namensschildes bzw. Ausweises und das Vorweisen vom schwarzen Aktenköfferchen, Stethoskop oder Auto als Kommunikationsinstrumenten. Mit diesen Äußerlichkeiten wird den Einzelnen auch der komplette Habitus mitgliefert: Wer aussieht und sich verhält wie ein Bankdirektor, könnte auch einer sein; denn schließlich erkennt man den richtigen Bankdirektor auf der Straße auch nur, wenn er wie ein Bankdirektor aussieht. Man stelle sich einmal vor, jeder von uns wäre genötigt, selbst zu erfinden, wie er ausdrücken will, daß er heiratet oder einen Angehörigen verloren hat. Durch das Tragen von normierter Hochzeits- oder Trauerkleidung wird erst verständlich, was für eine Handlung ich gerade begehe. Durch die Normierung aber wird andererseits auf die Unterscheidung von Hochzeiten und Trauerfeiern verwiesen. Homogenisierung und Differenzierung sind gleichermaßen normiert; es ist eben nicht so, daß die Gruppe homogenisiert und das Individuum differenziert, das Individuum hat zwar zur Differenzierung eine gewisse Auswahl, bleibt aber im allgemeinen aufs gesellschaftliche Angebot angewiesen. Differenzierung ist weniger Abweichung, sondern Abgrenzungsversuch. So hat es beispielsweise keinen Sinn, sich mit Goldschmuck zu behängen, wenn Goldtragen als Auszeichnung nicht anerkannt wird.

zu d Komplettierung:
Jeder hat an sich selbst erfahren, wie unangenehm es ist, von anderen nur in einer ganz eingeschränkten Rolle angesprochen zu werden (als Fachidiot z.B.). Man wird dann bemüht sein, zu verstehen zu geben, daß man auch andere Fähigkeiten habe bzw. mehr sei als das, was man in der Rolle zeigen dürfe. Man würde, so man hat, etwa unmerklich, aber bestimmt, auf seine bisherigen Leistungen verweisen (Lebensrettungsmedaillen, Titel), man würde auf seine Familie verweisen, auf die eigene Biographie und vor allem würde man zu demonstrieren versuchen, als Persönlichkeit Wirkung auszuüben. Die Funktion der Komplettierung an einem konkreten Alltagsbeispiel: Jemand fordert in der vollbesetzten Straßenbahn einen Schwerbeschädigtenplatz für sich. Da man ihn in seinem Aussehen nicht von anderen Fahrgästen unterscheiden kann, ist man erst bereit, dem Ansinnen nachzugeben, wenn man als Komplettierung zur Person den Schwerbeschädigtenausweis gezeigt bekommt.

Komplettierungsleistungen sind geradezu Hauptangebot der Kosmetikindustrie, die beweisen kann, daß man ohne make-up in der Öffentlichkeit nackt ist, unvollkommen, nicht komplett. Daß die ganze soziale Person sich selbst ausstellen kann, ist ihre erste 'Sorge': sexuell stimulierend durch Vollrotlippen und Augenmarkierung, gesund und damit sozial leistungsfähig durch straffen Teint und sanfte Bräunung.

Die Nachfrage nach Komplettierungsangeboten nutzt auch die Zigarettenindustrie, denn die meisten Raucher rauchen oder begannen wenigstens zu rauchen, in dem Verlangen nach Komplettierung ihrer Attitüde im Sozialverkehr: die ansonsten so schwer kontrollierbaren Greif- und Haltewerkzeuge 'Hände' werden unter die Koordinationskontrolle 'Rauchen' gebracht - 'Rauchen' in Gemeinschaft mit anderen ebenso aneignungsfähigen Armen und Händen, durchs Rauchen ebenfalls in Kontrolle geraten.

zu e Transformation:
Hier geht es im wesentlichen um die Symbolbildung, d.h. daß eine Person oder Gruppe durch Zuordnung von materialen Objekten zu bedeutungsvollen Vorgängen oder Zuständen repräsentiert sein kann, ohne daß die Vorgänge oder Zustände noch realiter ablaufen, Gruppe oder Individuum noch real anwesend sind. Fetische sind diese Objekte, wenn man sie selbst für bedeutungsvoll hält, nicht mehr als Vergegenständlichung von Bedeutungen, als Bedeutungsträger verwendet. Hoheitszeichen, Bürgermeisterketten, Bischofsstäbe, Wappen usw. stellen traditionelle Bedeutungsträger dar. Modeaccessoires oder Warenverpackungen, die für die Sache selbst stehen, aber und vor allem das Styling jeglichen Materials - vom Anzugschnitt bis zur Farbkombination aller Kleidungsstücke sind die zeitgenössischen Entsprechungen.

Was wird aus diesen alltäglichen Gegebenheiten von den Künstlern der Bodyart gemacht? Ihre Objekte und demonstrierten Handlungen haben eine größere Ähnlichkeit zu dem, was unsere Völkerkundemuseen von früheren Gesellschaften bewahren als zur gegenwärtigen Körperpräparierung (Selbstdarstellung im Alltag). Dennoch handelt es sich nicht um Rekonstruktionen von Zusammenhängen, die erst durch die Aktualisierung wieder neue Bedeutung bekämen (so wie das etwa die Französische Revolution mit den römischen Lebensformen oder die italienische Renaissance mit den griechisch-hellenistischen Vorbildern erreichten), sondern um Traditionsausbeute mit bestenfalls interessanten Verfremdungseffekten. Es ist bisher nicht viel mehr zustande gekommen als die Verdopplung des Ausgangsmaterials, Stilisierungen und platte Analogiebildungen, die nur die Erscheinung, nicht aber die Funktion der in den Museen aufbewahrten Objekte aufnimmt. Sie sind Fetische für die angebliche Bedeutung künstlerischer Schöpfungskraft. Gerade deswegen wird ihnen keine verbindliche Bedeutung zugestanden, sie sind individuelle Mythologien, Setzungen Einzelner.

Körperkunst, Bild: Kunstvolle Praktiken des Alltags.
Körperkunst, Bild: Kunstvolle Praktiken des Alltags.

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