Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 521 im Original

Band III.Teil 4.2 Brust raus! oder Die befreite Brust

– Zur Emanzipation eines Körperteils

1968 als RINGFIBEL veröffentlicht; Ring-Publications Gerold DOMMERMUTH, Frankfurt am Main.

2.1 Differenzierung der Brustwahrnehmung

„Es ist die Pflicht eines jeden, sich zu allem zu äußern, was er im Laufe eines Tages mehrmals anfaßt, damit aus dem Anfassen ein Begreifen wird.“ (LENIN zu seiner Frau auf die Frage „Was tust Du da?“)

Bürger Leser,
es ist notwendig, sich zu erklären, damit die Perspektive erkennbar wird. Dazu zitieren wir den Bürger HÖKE, der seinerseits einen anderen Bürger zitiert, ohne allerdings anzugeben, daß er zitiert: "Die Leute, die ganz links sitzen, sehen die rechte Brust im Profil. Die Leute, die Mitte links sitzen, sehen die rechte Brust schräg von vorn und die von der rechten Brust bis zur Hälfte verdeckte linke Brust. Die Leute, die in der Mitte sitzen, sehen die Brüste von vorn. Die Leute, die Mitte rechts sitzen, sehen die linke Brust schräg von vorn und die von der linken Brust zur Hälfte verdeckte rechte Brust. Die Leute die rechts sitzen, sehen die linke Brust von der Seite."
Dazu ist sofort zu bemerken, daß es eben gerade bei der Brust viel mehr auf das Begreifen ankommt als auf das Sehen. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Voyeurismus unserer spätkapitalistischen Gesellschaft eine Erfindung der Herrschaften ist, um Beteiligung ohne Anteil zu ermöglichen. In diesem Sinne will die vorliegende Arbeit nicht als Verlängerung des Auges verstanden sein (auch genaueres Sehen ist immer noch kein Begreifen), sondern als Aufforderung zur Aktion, die Besitzverhältnisse über die Produktivkraft Sexualität zu verändern. Die Brust gehört in aller Hände und nicht nur in die Weniger, die soviele Brüste haben, daß sie sie gar nicht fassen können.
Bei diesem gemeinsamen Geschäft müssen wir stets verhüten, daß sich unliebsame Folgen einstellen. Und eine solche wäre die Verbrüderung im Unglück: sich nachher in den Armen und am Busen zu liegen mit dem Stoßseufzer: "Wir sind doch alle ein bißchen schwach auf der Brust." Aber es darf auch nicht folgen, daß wir uns in der gemeinen Kumpanei an die Brust schlagen, um nach vollbrachter Missetat entschuldigend hervorzutönen: "Sowas ist unter Busenfreunden gang und gäbe."
Gegenüber Kritikern aus den eigenen Reihen, die 'Brust raus' angetreten sind, sollte angemerkt werden, daß wir durchaus den Unterschied zwischen Aktionen wie 'Saubere Leinwand' und 'Saubere Brust' wahrzunehmen vermögen. Er besteht darin, daß man auf die Leinwand desto weniger gern sieht, je sauberer sie ist, während man desto lieber sich mit der Brust beschäftigt, je sauberer sie ist. Die Kampagne 'Saubere Brust' wurde zumeist als Kampagne gegen die unbedeckte Brust geführt. Auch hier haben wir es mit historischen Tätigkeitsmerkmalen zu tun: "die saubere Brust ist eine bedeckte Brust" folgt dem Sinnspruch: "ein guter Indianer sei ein toter Indianer".
Auf diese Weise lassen sich Imperialismus und Brustwesen miteinander verbinden. Das ist die wahre Perspektive, von der oben die Rede war. Sie ist notwendig, um endlich auch im Brustwesen die von uns allen verlangte Progression der Treue zum Betrieb zu durchbrechen:
Steif Knopf im Ohr
Steif Finger in der Nase
Steif Glied im Bauch
Steif Leiche im Sarg
Aber, von der Brust aus gesehen, ist das der Weg nach unten. Er ist wohl unvermeidlich. Denn wer seine erste Liebe (die Brust fürs Baby) nicht vergißt, der wird seine letzte nicht erkennen. Dem wird erst der Arzt sagen, nun sei es zu spät.
Insofern soll Ihnen diese Arbeit auch helfen, die erste Liebe Ihres Lebens zu vergessen: die Brüste Ihrer Mutter.

2.2 Die Brust als Körperlandschaft

Als sich die Beseelungspraktikten der Menschen mit Zunahme der kritischen Reflexion langsam lächerlich machten, als der Animismus dem nicht durchsetzbaren Naturvernichtungswillen primitiver Menschen zugerechnet wurde, begann man damit, den menschlichen Körper zu vernatürlichen. Wurde bei den Primitiven die Natur in Analogie zur Geisterwelt betrachtet und als ihr Ausdruck, so wurde nunmehr zu Beginn des 18. Jahrhunderts die innere menschliche Vorstellungswelt und Seele mitsamt ihrem Sitz, dem Körper, in Analogie zur Natur beschrieben.
Die Seele wurde zur Seelenlandschaft, und was die Seele barg, wurde zur Körperlandschaft.
Es dürfte über die Blickrichtung und Perspektive desjenigen etwas auszusagen sein, der zuerst die beiden Brüste mit einer lieblichen Hügelkette verglich und der dann ein übriges tat, als er auch noch den Schnee auf sie fallen ließ, worin die Weiße der Brust aufbewahrt werden sollte. Gegenüber den strammen Stampfern und rauhen, aufgerissenen Armen, die der Witterung ausgesetzt waren, mußte in der Tat die immer bedeckte Brust kränklich weiß sich ausnehmen, schneeweiß. Am Abend schmolz der Schnee.
Da in früheren Zeiten die allgemeinmenschliche Brust noch tiefer durchzuatmen pflegte, so daß die Atemzüge sich deutlich in der Bewegung des Brustkorbs ausdrückten und sich andererseits Gemütsbewegung direkt in Körpertat übertrug, konnte man auch auf die Idee kommen, die beiden Brüste den Blasebälgen zu vergleichen. In besonderer Fixierung dessen, warum so stark geblasen wurde, nannte man sie die Blasebälge unserer Lust.
Einem Detail der Brustkonstruktion, dem eingefärbten Warzenhof, verdankt sich der Vergleich der Brüste mit den lieblichen zwillingszweien Rehäugelein.
Die Gesamtbrüste wiederum, in der Form ihrer Präsentation, wurden verglichen den eingefaßten Diamanten, gleichsam ideell überhöht nur den Wert der Diamanten meinend, nicht ihre Größe.
Die Beschreibung der Brustlandschaft unter dem Gesichtspunkt des Taktilerlebnisses (Berge kann man ja schlecht anfassen, um ihre Rundung zu spüren) hat sich völlig bestimmen lassen durch die Tasterlebnisse an Alabaster, an Steinen, an Elfenbein, an Marmor. Den so Vergleichenden muß das Brusterlebnis vor allem an sehr jungen Mädchen zuteil geworden sein.
Auch die angegebenen Farbwerte und geschmäcklerischen Nuancierungen verraten, daß die Erlebnisinhalte eines Busenfreundes durch Analogie zu denen des Naturgängers gewonnen werden: es blitzt grell, der Farbbogen leuchtet, das Licht glüht usw. Sicherlich hatte diese Art des vernatürlichenden Sprechens die Aufgabe, das Sprechen über und das Reden von der Brust überhaupt erst zu ermöglichen. Denn wurde die Sache, die nackte Brust, besprochen wie etwas, was allen vor Augen lag, konnte daran nichts Verwerfliches liegen.
Zu bedenken ist, daß sich das Volk mit der Beschreibung des primären weiblichen Geschlechtsmerkmals nie solche Mühe gegeben hat. Jener Bereich der Körperlandschaft ist unterbestimmt, jedenfalls viel unterbestimmter als der der Brust. Die Zahl der Bestimmungs- oder Reizwörter ist für die Brust größer als die fürs Geschlechtsorgan, obwohl Eltern und Lehrer sich gerne das Gegenteil einreden. Aus der Gruppe der Gegenbeweise, der Bestimmung der Körperlandschaft Unterleib, soll an eine besonders erinnert werden: Arno SCHMIDT wies nach, daß Karl MAY offensichtlich Landschaftsbeschreibungen als Vorbereitung auf eine Aktion immer als Beschreibung der Landschaft zwischen abgespreiztem Schenkel und steil stehendem Schenkel anlegte.

2.3 Sich dieser Dinger zu bemächtigen, ihrer teilhaftig zu werden

Wurde die Brust in Analogie zu Hervorbringungen der Natur beschrieben, so wurden auch die Betätigungen an der Brust analog zur Betätigung in der Natur gebildet: in jedem Roman "wandert" die Hand des Verführers übers Hinterteil hoch und herum über die prallen Bluseninhalte. Und die Finger werden dann zart übers fleischige Gelände an seinen höchsten Punkt "spazierengeführt".
In gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen, vom mittleren Mittelstand abwärts, sind Sexualbeziehungen aus Gründen der Gefühlsnot und Sprachlosigkeit sehr stark versachlicht, im schlechten Sinne: die Partner sind nur momentane Nutznießer an einem Sexualobjekt. In diesem Bereich werden die Brüste zu Titten, die durch lange Verhaltenskonditionierung nicht zur Erweckung der Vorlust dienen, sondern unmittelbar zu Realwerkzeugen des Lustgewinns werden. Bezeichnend ist, daß diese Akte in gewisser Weise unseren Vorstellungen von Vergewaltigung gleichen. Das Aufreißen oder schnelle und heftige Öffnen der Kleidung beginnt immer am Decolleté, nie beim Schlüpfer. Auch sind die automatischen, die Reflexbewegungen aus verletzter Scham fast immer Bewegungen der Arme vor die Brust.
Mir scheint darin ausgedrückt, daß sich die Brust als erster weiblicher Körperteil (noch vor den Mundlippen) von seiner naturgeschichtlichen Bestimmung (als Nahrungsspender fürs Baby) befreit hat und eben deshalb auch um so verletzlicher wurde, weil die Annahme nahelag, diesen Körperteil auch außerhalb der naturgeschichtlichen Bestimmung benutzen zu können. So wurde die Brust zum ersten und intensivsten Instrument der befreiten Lust, befreit aus der Koppelung an den Prozeß der Reproduktion der Gattung durch Fortpflanzung.
Die Erweckung der Lust ist eine kulturelle Höchstleistung. Sie ist schwere gesellschaftliche Arbeit gegen die Natur der Sache, gegen die Brust als Milchspender. Jeder Begriff von Aufklärung, der, wie heute zumeist, alle Vorgänge der Produktion von Lust zurückschraubt auf den Ablauf ganz natürlicher Prozesse, ist deshalb reaktionär. Das kann nicht eindeutig genug gesagt werden. Die gesellschaftlich richtige Aufklärung kann sich nicht mit dem Hinweis begnügen, daß Brust schlicht ein Fettgewebe sei, an der Spitze besetzt mit Drüsenausgängen und Schwellkörpern, die sich bei Berührung in besonderer Lage aufrichten können. Gesellschaftlich richtige Aufklärung hat zu sprechen über die Brust als Fetisch, Brust als Instrument der Anpassung, Brust als naturgeschichtliches Organ des Überlebens der Gattung, verengt zum Organ der unterdrückenden Vorherrschaft einer Einzelnen. Die mißverstehende Aufkärung hat den Organaufwand des Menschen zur Naturbestückung langsam abgebaut, sie hat menschliche Liebesarbeit konkretistisch aufs Bienchensummen und Zickleinbocken verengt.
Dieser Verengung ist zum ersten Male der ärztliche Jahrhundertruf: "Machen Sie sich bitte frei" entgegengetreten. Der ärztliche Zugriff auf die weibliche Brust ist die erste moderne Aneignungstechnik, soweit wir diese nur als das Verkürzen der Distanz zwischen ferner Brust und sich nähernder Hand verstehen. Wie uneindeutig diese Annäherungsweise war, zeigt sich darin, daß es sehr lange dauerte, bis sie sich institutionalisieren ließ als wertfreie ärztliche Handreichung. Heute kommt sehr häufig dieses Moment der Zweideutigkeit zum Vorschein, ausgedrückt in Witzen über gattliche Eifersucht und in den schnellen und offenen Bekundungen der Frauen ihren Männern gegenüber, sie hätten beim Arzt nichts gefühlt. Die Anstrengung, solche Versicherung wahrheitsgemäß abgeben zu können, ist für viele Frauen sehr groß und von gewissem masochistischen Lustgewinn begleitet. Die zahlreichen Medizinerwitze legen es den Gatten nahe anzunehmen, daß sie in gewisse Idealkonkurrenz mit den Doktoren zu treten haben, weil das Erlebnisniveau der institutionalisierten Berührung und Annäherung höher liege als das der gattlichen Annäherung. Vor allem in psychischer Behandlung wird so die institutionalisierte Annäherung an den weiblichen Körper zum Ritual, während die gattliche Annäherung zur Konvention wird.
Rituelle Bewegungen können übertragen werden und das geschieht heute sehr häufig. Aus den Doktorspielen der Kinder, die diesen den Vorwand geben, alles tun zu dürfen, ohne selber gemeint zu sein - also auch ohne schuldig zu sein - wird das Doktorspiel der Erwachsenen. Seine populärste Form ist das Tastspiel. Die von Behörden ausgegebenen Anleitungen dazu lesen sich und werden verstanden als Anleitungen zum Lustgewinn. Die Öffentlichkeit ihrer Anwendung setzt zusätzlich Gefühle frei.
In dieser Gegend der Körperlandschaft, an den Brüsten, durften sich bisher die Hände zumeist ohne besonderen Auftrag herumtreiben: wie die Handflächen sich aushöhlten, wie die Finger sich langsam zusammenschlossen, wie sich geschlossene Finger wieder öffneten und sich langsam zum Daumen hin wieder zusammendrückten, wie sich die Hände drehten, wie sich die Handgelenke verkanteten - man durfte die Brüste anfassen:
entweder von hinten unter den Achseln durch mit beiden Händen, wobei die Brüste auf Druck hin über die Handflächen hinausquollen
oder von vorn, zumeist mit einer Hand, schräg den Arm über die andere Brust gepreßt (die zweite Hand hielt den Hinterkopf.)
und auch von unten her schräg nach oben, die Handteller wie Kuchenschieber über Schenkel und Bauchhaut führend …
Es waren stets Hände, die willkommen waren, die erwartet wurden und Erwartung hervorriefen. Wie immer, diese Hände gehörten zur großen Bewegung, in der wir alle täglich ein bißchen Erwartung in Erfüllung überführen wollen. Die Erwartung des Schlimmsten: daß die Knötchen etwas Ernstes zu bedeuten hätten. Und die Erfüllung des Wunsches, noch einmal davonzukommen.
Denn seit einigen Jahren dürfen sich in dieser Gegend die Hände in bestimmtem Auftrag bewegen: tastend, sich an den Fingern zuspitzend, mit den Fingerkuppen abschmeckend, quirlend - Klümpchen bleiben hängen wie naßgewordene Federn in einem Federbett.
Doch die Gatten sind vorsichtig geworden. Man hört von ihnen sehr betont das Urteil: "Den möchte ich aber nicht zu meinem Frauenarzt haben."

2.4 Die Brust als Organ der Anpassung

Das Einverleiben durch den Mund ist die erste der intensiven Einverleibungstechniken, die der Mensch ausbildet. Als erstes Angebot dafür kommt nur die mütterliche Brust in Frage. Weitgehend wird hier schon bestimmt, in welcher Form sich das Kind später den Zugriff auf die Welt erwirbt. Eine erste und auch fatale Konditionierung des Kindes findet beim Aneignen von Welt durch den Mund auf dem Wege der Nahrungsaufnahme statt. Jede Unebenheit, jedes Verzögern, jedes Zubeißen, jedes Festsaugen wird durch Entzug der Brust geahndet, bis das Kind lernt, sich den Bedingungen anzubequemen, um ungestört, angepaßt leben zu können. Bei solcher Passivität dann kann es allerdings alles von einer Situation erwarten, wird die Hingabe belohnt.
Es sei erinnert, daß sich die Karikaturisten der Konsequenzen solchen frühen Anpassens häufig so annehmen: sie zeigen ein gewaltiges Weib, dessen Gatte mit zehengestreckten Beinchen seinen Mund gerade in die Höhe der Gattinbrüste zu bringen versteht.
In der Tat leitet sich heute eine große Zahl von intersubjektiven Beziehungen aus den Beziehungen der Babys zu den Brüsten ihrer Mütter ab (Phänomene des Mamitums in USA, ablesbar am Volumen der wöchentlich neu publizierten Pin-up-Girls).
Für das Kind ist gewährte Nahrungsaufnahme immer die Lösung einer von Unlust begleiteten Situation. Die Reaktionen des erwachsenen Mannes werden sich deshalb häufig zurückwenden auf eine analoge Möglichkeit. Statistisch ist nachzuweisen, daß die in Karikaturen gemeinten Männer tatsächlich Frauen haben, die mit überdurchschnittlich großen Brüsten ausgestattet sind.

2.5 Brust und Normativität

In der normativen Bestimmung der Brust liegt ein großes Problem. Wir erinnern uns an jenen Bauern aus der Gegend um Posen, der nach Posen kam, beide Arme vor sich gestreckt, ein Geschäft für Miederwaren betrat, um einen Büstenhalter für seine Frau bat und, nach der Größe gefragt, eben seine ausgestreckten Arme mit den jeweils Halbkugeln im Negativ abbildenden Händen als Maß angab. Auf dieser Basis die Größe der Brüste seiner jeweiligen weiblichen Partner anzugeben, würde heute noch jedem so schwerfallen wie dem Bauern aus der Gegend von Posen. Doch mit der Vereinheitlichung der Maße und Gewichte hat sich auch das Maß für solches Ding vereinheitlicht, selbstverständlich nur aus kommerziellen Gründen. Kommerzialisierung ist in Europa immer der stärkste Anreiz zur Rationalisierung gewesen. (Um gleich einen weiteren Gedanken anzubringen: die Rationalisierung etwa im Bereich des kommerzialisierten Sexus ist allerdings immer noch nicht sehr weit gekommen, was man den entsprechenden Angeboten in entsprechenden Gegenden der Großstadt entnehmen kann; dort wird unendlich der Unterschied gepriesen.)
Im allgemeinen, im großen und kleinen werden die Brüste heute auf die Einheitsgrößen 3, 4, 5, 6 und ihre A- und B-Komponenten zurückgeführt. Oder eben vielmehr nicht die Brüste, sondern die Büstenhalter. Die normativen Werte für die Brüste selbst sind wohl mehr an Angaben zur Form und Gestalt festzumachen: allerdings auch hier nur sehr oberflächlich und die Mischformen oder Zwischenlieger nicht berücksichtigend. Man kann sagen, daß es Rundbrüste, Spitzbrüste und Hängebrüste gibt, welche letztere die Tendenz zum zerfließenden Rechteck haben. Um nun das Volumen dieser unterschiedlichen Form zu rationalisieren, sind eben die Büstenhaltergrößen gewählt worden. (Sonst hätte man wohl die Handgrößen der Männer normieren müssen, die als Hohlformen die Größe der Brüste ihrer Frauen anzeigen könnten.)
Nicht zu verschweigen ist, daß sich durch die Festlegung der Büstenhaltergröße auch die Festlegung einer gewissen Minimalgröße, eines Mittelwertes und der Spitzenwerte ausgebildet hat. Sollte zunächst die Größe dessen, was da ist, bestimmbar werden, so wurde nun die Größe dessen bestimmt, was da sein sollte. Die Normen mußten erfüllt werden.

2.6 Brust und Klassenkampf

Dazu lese man: Reimut REICHE, 'Sexualität und Klassenkampf - zum Problem der Abwehr repressiver Entsublimierung', Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1968.

Zu überlegen bleibt, warum die Maler dreier Jahrhunderte die Damen Freiheit, Recht und Vaterland zumeist mit nackter Brust darstellen - man erinnere sich an DELACROIX. Sollte man annehmen, das sei die Umkehrung des antiken Prinzips, den fliehenden Krieger wieder zurück aufs Schlachtfeld zu scheuchen, indem Frauen ihm das Nackte unterm Rock zeigten? Der Bürger jedenfalls rennt der nackten Brust nach. Ist etwa der Kampf für die Freiheit für ihn vor allem ein Kampf ums Entblößen der Brust und damit natürlich auch des freien Zugriffs auf sie?

2.7 Brust und verfassungsgewährte Gleichheit

Es ist erstaunlich, daß bei der möglich gewordenen Normenerfüllung, was die Größe der Büstenhalter/Brusteinheit anbelangt, die Gleichheit unter den Büsten immer noch nicht durchgesetzt ist. Wahrscheinlich werden da als Geschmacksurteile, als unterschiedliche Vorlieben nur die ganz unlösbaren Fälle rationalisiert - also als begründbar ausgegeben: "Es muß ja doch immer verschiedene Geschmäcker geben." Es könnte auch sein, daß die Betroffenen sich zu stark einer Kontrolle ausgesetzt sehen, die ja beim gemeinsamen Baden oder Sonnen möglich wäre und die einen sehr starken Imageabbau zur Folge hätte. Das gilt gewiß nur für diejenigen, welche ihre Vorzüge darin sehen wollen, sich nichts vormachen zu müssen. Sich nichts vormachen zu müssen, kann auch eine Täuschung sein. Täuschung darüber, daß es nur rechtens sein kann, wenn die abstrakten Gleichheitsgrundsätze der Verfassungen auch am lebendigen Menschen konkret werden - in der Gleichheit der Brüste als Instrumente zur Erweckung der Vorlust usw. Es ist nur zu begrüßen, wenn auch hier der Primat menschlicher Arbeit vor dem Zufallsprodukt der Natur hochgehalten wird, wenn mittels Büstenhalter und plastischer Chirurgie die Büstenformen idealisiert werden, also den Vorstellungen angepaßt werden, die wir heute nach Maßgabe der Dinge von den Brüsten haben können.
Die Miederindustrie ist somit ein Vollzugsorgan der Verfassungsinhalte.

2.8 Brüste und Büstenhalter

Jedes Lexikon gibt darüber Aufschluß, daß sich Frauen nicht immer so gekleidet haben, wie sie es heute tun und vor allem, daß sie nicht immer, so wie heute, ihre Büste bekleidet haben. Von den frühen Tagen in Ägypten bis zum späten 16. Jahrhundert wechselten völlige Brustbedeckung mit Entblößtheit und loser Bedeckung ab. Als die spanische Mode Europa und die Welt beherrschte, setzte sich mit ihr das Korsett durch - mit den spezifischen Vorrichtungen zur Unterbringung einzelner Körperpartien. Als in Frankreich mancher Stuhl zu wackeln begann, zeigten die Draufsitzenden schon wieder Busen, nunmehr in Form des Dekolletés, das aus dem spanischen Korsett entwuchs. Mit der Revolution der Revolutionen flogen auch die Korsetts in die Ecke - ein Brustband hob und hielt, was nur leicht gehalten werden sollte. Doch auch auf diesem Gebiet sind Reaktion und Fortschritt schlecht zu unterscheiden. Als NAPOLEON abgeschoben wurde, gabs bereits eine Miederindustrie. Biedermeier und Krinoline, die Gründerzeit mit der Tournüre und die Vorkriegszeit mit der Kreation 'Sans Ventre' (Ohne Bauch) ließen schließlich den Willen zur Selbstmanipulation übergehen in einen gesellschaftlichen Anspruch auf Angleichung der Frauen aller Stände (und das heißt natürlich nur der Stände, deren Frauen es sich leisten konnten).
Erst mit Beginn der beliebten abstrakten Kunst um 1910, so sagt Professor MITSCHERLICH, schlug die Stunde für den Büstenhalter. Er ist etwa so alt wie die Luftfahrt. Und verdankt sich auch dem Ruf nach mehr Luft, nach frischer Luft, die den Damen nun auf Anraten der Arzte zugeführt werden sollte. Den Höhepunkt der Entwicklung der Büste als Büstenhalter stellt zweifelsfrei Rudi GERNREICHs Nichtbüstenhalter oder No-bra dar, wobei die Betonung auf dem Prädikat liegt: der Büstenhalter ist ein Nichtbüstenhalter. GERNREICH macht den Versuch, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wie jeder gute Dialektiker: Der Nichtbüstenhalter als hauchdünnes, zu durchahnendes Netz erlaubt, die Funktion des normalen Büstenhalters zum Zwecke der Korrektur der Natur beizubehalten, und er will den notwendigen Hinweis geben auf die Befreiung der Brüste aus dem Dunkelfeld privater, verblödeter Praktiken. Er will einerseits uns den möglichen Lustgewinn erhalten, den wir aus Gründen kindlicher Fixierung aus der büstenhalterbekleideten Brust ziehen, und er will andererseits uns aus dieser Fetischisierung befreien, indem er uns den nackten Busen bietet. Nackt und dennoch anfaßbar, was ja ein anderer Gewerbezweig nicht vermitteln kann: der Striptease.

siehe auch: