Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 1027 im Original

Band V.Teil 4.2 Grundgeräusche und ein Hörraum

– auf dem Wege zu einer Grammatik akustischer Umweltwahrnehmung (eine Hörschulung)

2.1 Erziehung zum Hören (grundsätzlich)

Erstens wird die Arbeit 'Grundgeräusche' nicht mehr als ein Hörspiel im Sinne eines Kunstwerks zu verstehen sein, denn das zu Hörende zeigt nicht und dokumentiert nicht den Vorstellungsraum oder Erlebnisraum eines Künstlers, sondern untersucht den Vorstellungsraum und Erlebnisraum der Hörenden. Diese Arbeit geht von der Grammatik des Hörens aus, die von den Hörern gemeinhin eingehalten wird und aufgrund derer die Hörspiele Produzierenden ihr Material kalkulieren.
Zweitens: Die Arbeit kann nicht als ein Versuch bezeichnet werden, ein Hörspiel herzustellen gegen die dominierenden Hörgewohnheiten, indem sie einfach bewußt auf die Grammatik des Hörens verzichtet oder gegen sie anrennt. Das ist der Weg des sogenannten modernen antiillusionistischen Hörspiels. Meine Arbeit besteht in einer Untersuchung der Grammatik des Hörens oder in der allmählichen Konstituierung einer Kosmologie des Ohres. Also in gewisser Weise in der Herstellung eines Lexikons akustischer Umweltwahrnehmung.
Drittens: Die Arbeit ist nicht schon als ein geschlossenes Programm zu verstehen, sondern als die Aufschlüsselung eines Tatbestandes aus der Demonstration eines Falles. Das so gewonnene Material kann in weiteren Arbeitsgängen allerdings zu einem Programm ausgebildet werden.
Der Hörer ist insofern Produzent, als wir nur Konstellationen bestimmter Materialien anbieten, aus denen der Hörer sofort eine Geschichte bildet. Das angebotene zu Hörende selber ist so beschaffen, daß dem Hörer klar wird, wie sehr er sich täuschen läßt, wie sehr er alle Wahrnehmung schon auf Bekanntes und Erwartetes reduziert. In diesem Sinne wird das akustische Material vom Hörer zum Hörspiel gemacht. Wobei das angebotene Material diesen Weg oder diese Gewohnheit denunziert. Der Assoziationszwang muß aufgebrochen werden.
Der Hörer sollte außerdem angeregt werden, seine jeweilige Umgebung akustisch zu aktualisieren. Wenn der Hörer sich außerstande sieht, unserem Angebot auf akustische Aktualisierung seiner augenblicklichen Umgebung nachzukommen, dann könnte er doch die nachfolgende Arbeit als Trainingsanleitung benutzen.

2.2 Auf dem Wege zu einer Grammatik akustischer Umweltwahmehmung (eine Trainingsanleitung)

An die, die dies hören, einen Hinweis auf den Ohr-Mundverbund, den Ohr-Ohrverbund, den Ohr-Hirnverbund.
Das Ohr fand sein Zeichen vor langer Zeit: an Arbeitsplätzen und in Schmusewinkeln, am öffentlichen Ort und im Privatreservat klebten Plakate, die den Ausschluß des Ohres von der Umweltwahrnehmung forderten, denn wer etwas hörte, war potentiell aus der Zwangsverfügung schon entkommen, er war zum potentiellen Feind geworden, der überall mithört und sich aus dem Gehörten einen schlimmen Reim aufs Gegebene machte. An allen Wänden stopften pssstende Münder die Ohren. "Pssst, Feind hört mit."
Für uns Jüngere ist solche Konditionierungsanlage nicht ohne Interesse, weil sie so total war für eine ganze Nation. Teilpraktiken dieser Art finden wir auch anderswo vor: in Filmen etwa, in denen sich Handelnde in ihrer Kommunikation miteinander aufs Gestische reduzieren, weil kein Geräusch oder Laut sie verraten darf. Gangster und Detektive, Indianer und Westmänner, Gefängnisinsassen und Soldaten in Einsatzbereitschaft versuchen in jedem Fall und mit allen Mitteln, die akustische Wahrnehmung ihres Vorhabens durch die 'Gegner' zu verhindern.
In den letzten Minuten vor Eintreten des alles entscheidenden Ereignisses verstummen die Akteure. "Stille kündigt den Sturm." "Die Stille ist beredt."
Dafür kann es nur eine Erklärung geben. Das Ohr reicht weiter als alle anderen Rezeptionsorgane, das Ohr geht um die Ecke, das Ohr drückt sich durch Wände, das Ohr koordiniert die Umwelt trennscharf. Das Ohr vor allem bildet die Umweltbeziehungen in dem Vorstellungspotential ab, über das der Hörende verfügt: wer etwas hört, zieht unmittelbar daraus einen Erwartung begründenden Schluß, denn das Ohr verarbeitet simultan mehrere Reize zugleich und bietet damit immer den aktuellen Stand der Umweltbeziehung des Hörenden.
Aus den empirischen Untersuchungen von Physiologen ist bekannt, daß die Umweltrezeption am weitestgehenden gestört ist, wenn das Ohr als Rezeptionsorgan ausfällt. Blinde oder erblindete Kinder können nach einigem Training ihre Umweltwahrnehmung fast vollständig der von sehenden Kindern angleichen. Taube oder gar taubstumme Kinder, die sehen können, bedürfen unverhältnismäßig längerer Ausbildung, um auch nur einen minimalen Teil solcher Umweltrezeption zu erreichen.
Diese bekannten Tatbestände gewinnen heute höchste Bedeutung für Bereiche der Lebenspraxis, die wir eigentlich als ganz normal ansehen. Zum Beispiel für die Architektur. In zunehmendem Maße müßten Hochhäuser schallisoliert gebaut werden. Das hat viele Gründe, unter anderem aber auch den, daß das Ohr von den akustischen Wirklichkeitsbeweisen unserer Zivilisation überanstrengt ist. Die Lärmbelästigung führt heute schon in vielen Fällen zu Veränderungen der Rezeptionsleistung des Ohres, die bis zur vollständigen Taubheit gehen können. Wichtig zu bedenken ist dabei, daß solche Störung nicht aufs Ohr beschränkt bleibt, sondern Herz und Kreislauf, sensitive Wahrnehmung und vegetative Funktionskreise bis zum totalen Zusammenbruch stört. Um solche Schäden zu vermeiden, ist es eben notwendig, unsere Arbeitsstätten und Wohnungen gegen schädigende, durchs Ohr vermittelte Umweltdemonstrationen abzusichern.
Aber da wir von der Umweltwahrnehmung durch Hören in stärkstem Maße abhängig sind, müssen die schallisolierten Räume mit einem steuerbaren, jeweils veränderbaren Programm akustischer Umweltnachweise beschickt werden, die dem Hörenden erlauben, auch in abgeschlossenen oder isolierten Räumen seine vertraute soziale Umgebung bei sich zu behalten oder sogar erst zu begründen.
Die eben beginnende interplanetarische Zivilisation wird diesem Problem immerfort ausgesetzt sein. Die Orientierung der Raumfahrer als soziale Wesen in einer sozialen Umgebung kann in interplanetarischen Stationen und Fahrzeugen zum größten Teil nur durch Simulation von akustisch wahrnehmbarer und akustisch identifizierbarer Umwelt geschehen.
Deshalb beschäftigen wir uns seit einiger Zeit mit der Produktion von akustisch wahrnehmbarer und identifizierbarer Umwelt. Das Ziel ist die Herstellung von wählbaren Programmen, die etwa, im naheliegenden Fall, in den einzelnen Räumen schallisolierter Häuser von deren Bewohnern abgerufen werden können. (Ein Programm für Fahrstuhlkabinen liegt inzwischen vor.) Es dürfte einleuchten, daß die Hörspielabteilungen unserer Rundfunkhäuser am besten geeignet sind, die Realisation solcher Programme zu übernehmen. Sie haben die längste Erfahrung und auch die entsprechenden Produktivmittel zur Herstellung akustisch wahrnehmbarer Umweltsimulation.

Dazu einige Achtungshinweise:
Erstens wird ein soziale Umwelt begründender akustischer Wahrnehmungsraum nicht mehr als ein Hörspiel im Sinne eines Kunstwerks zu verstehen sein, denn das zu Hörende zeigt nicht und dokumentiert nicht den Vorstellungsraum oder Erlebnisraum eines Künstlers, sondern untersucht den Vorstellungsraum und Erlebnisraum der Hörenden. Diese Arbeit geht von der Grammatik des Hörens aus, die von den Hörern gemeinhin eingehalten wird und aufgrund derer die Hörspielproduzierenden ihr Material kalkulieren.

Zweitens: kann das soziale Wahrnehmung trainierende Instrument 'Hörraum' nicht als ein Hörspiel bezeichnet werden, das gegen die dominierenden Hörgewohnheiten anrennt, indem es einfach bewußt auf die Grammatik des Hörens verzichtet oder sie zerstört. Das ist der Weg des sogenannten modernen antiillusionistischen Hörspiels.
Hörräume ermöglichen die Untersuchung der Grammatik des Hörens und die allmähliche Konstituierung einer Kosmologie des Ohres. Ziel ist die Herstellung eines Lexikons akustischer Umweltwahrnehmung. 

Drittens: Die Produktion von Hörräumen unterschiedlicher sozialer Geltungsbereiche kann nicht als ein geschlossenes Programm verstanden werden, sondern muß als Aufschlüsselung eines Tatbestandes, als Demonstration eines Falles versucht werden. Das so gewonnene Material soll in weiteren Arbeitsgängen zu Programmtypen ausgebildet werden, die dann allerdings nicht mehr auf Hörfunkwiedergabe beschränkt sein dürfen.

Verfahrenstechnische Einzelheiten:
Die Herstellung eines Hörraums ist wesentlich durch zwei Techniken bestimmt, erstens die Vereinzelungs- und zweitens die Verknüpfungstechnik.
Vereinzelung wird mit den Methoden der Analyse, Verknüpfung mit denen der Synthese zu erreichen gesucht.
Komplexe, akustisch wahrnehmbare Umwelt wird zunächst auf verschiedene Informationsniveaus reduziert: der simultane Prozeß der akustischen Umweltwahrnehmung wird in ein Nacheinander der einzelnen akustischen Wahrnehmungsebenen umgewandelt. .
Die verschiedenen Wahrnehmungsebenen werden aus dem konkreten Fall, den wir abhandeln oder untersuchen, abgezogen, sie werden verallgemeinert. In solcher Verallgemeinerung kann der Hörer sich besser auf die Wahrnehmungsstrukturen einzelner Komplexe konzentrieren, weil er das Vereinzelte nicht immer sofort dem untersuchten Fall zuordnen muß. Er kann vordergründig hören und braucht nicht das vereinzelt erscheinende Material auf den Hintergrund der erzählten Geschichte, auf die Bedeutung des untersuchten Falls zu übertragen.
Der beispielsweise gewählte Fall ist eindeutig genug, seine Demonstration sehr klar: ein Junge bringt sich um und zeichnet die Minuten seiner Tathandlung auf Tonband auf. Dabei will er nicht gestört werden, vermutlich jedenfalls, denn während er sich selbst total negiert, also sich umbringt, läßt er eine Platte spielen. Sollte die familiäre Umwelt des Jungen auf ihn aufmerksam werden, so würde sie das, was der Junge tut, als einfaches Abspielen einer Platte verstehen. Die Vertrautheit der akustischen Wahrnehmung von 'Plattenspielen ' hindert die familiäre Umwelt daran, die Situation in anderer Weise zu verstehen. Das heißt, niemand fragt noch nach den Motivationen, die einer dafür hat, etwas Bestimmtes zu tun, also etwa eine Platte abzuspielen. Denn das Plattenspielen ist zu einer völlig verselbständigten Form sozialer Handlung geworden, hinter der nichts anderes vermutet wird. Die Handlungsweise ist eindimensional geworden, sie wurde uns total vertraut oder redundant. Aus diesem Grunde ist es eigentlich auch ganz gleich, welche Musik gespielt wird. Das entscheidende für den Musikhörenden ist nicht die konkrete Information der Musik, sondern die eindeutig festgelegte soziale Handlungsweise oder Kommunikationsgeste, die wir alle Plattenspielen nennen. Mit dieser Beobachtung läßt sich ein häufig von Eltern ihren Kindern gegenüber gemachter Einwand entkräften: das "bloße Herunterdudeln", das "wahllose Konsumieren" von beliebiger Musik durch die Kinder sei Ausdruck von deren musikalisch-ästhetischer Verkommenheit. Nicht was gehört wird, sondern daß gehört wird, bestimmt die soziale Handlungsweise 'Musikhören'.
Das Verfahren der Verknüpfung der vorher allgemein und vereinzelt untersuchten akustischen Wahrnehmungskomplexe, ihre Synthese zum untersuchten Fall wird deutlich, wenn auf einen winzigen Umstand der Tathandlung hingewiesen wird. Der Junge hatte nicht bedacht, daß sein Sterben länger dauern könnte als die von der Platte abgespielte Musik. In diesem winzigen Moment wird sichtbar, wie stark die technische Reproduktion starrer unveränderbarer Umweltbestandteile unsere sozialen Kommunikationsformen festgelegt - oder anders ausgedrückt: es kann uns nicht darauf ankommen, Umweltkonserven zur Verfügung zu stellen, also das Wahrnehmungspotential von Hörräumen an die Stelle von Musiknummern zu setzen, sondern Programme der Konstituierung von Umwelt zu ermöglichen. Wünschbare Umweltkonstituierung durch wählbare Programme, das sollte bald schon erreichbar sein.
Bei diesen Überlegungen darf deshalb der Hinweis auf den Hörer als eigentlichen Akteur oder Produzenten des Hörraums nicht ausgespart bleiben. Das klingt sehr zeitgemäß und deshalb schon fast nichtssagend, läßt sich aber konkretisieren. Der Hinweis auf den Hörer als Produzenten ist erstens so zu verstehen: Aus den Gewohnheiten des Hörens ergibt sich bei jeder einzelnen akustischen Demonstration für den Hörer ein fast unüberwindbarer Zwang zur assoziativen Ergänzung, zu Verarbeitung des Materials in einen vorgegebenen Sinnzusammenhang. Im analytischen ersten Teil des Verfahrens wird gezeigt, wie dieser Assoziationszwang gestoppt werden kann, damit überhaupt erst wieder akustische Information aufgenommen werden kann. Es wird gezeigt, wie wir z.B. zwanghaft Sachverhalte in ihr Gegenteil verkehren, weil die Bedeutungserwartung oder die Sinnforderung so stark sind, daß wir Vereinzeltes nicht als das zu rezipieren bereit sind, was es ist, sondern als das, wozu wir es machen wollen und als was wir es erwarten.
Der Hörer ist also insofern Produzent, als wir nur Konstellation bestimmter Materialien anbieten, aus denen der Hörer sofort eine Geschichte bildet. Die angebotenen Wahrnehmungsbelege selber sind so beschaffen, daß dem Hörer klar wird, wie sehr er sich täuschen läßt, wie sehr er alle Wahrnehmung schon auf Bekanntes und Erwartetes reduziert. In diesem Sinne wird das akustische Material vom Hörer zum Hörspiel gemacht; wobei das angebotene Material diesen Weg oder diese Gewohnheit denunziert. Der Assoziationszwang muß aufgebrochen werden.
Zweitens ist vom Hörer als Produzenten dieser Arbeit in folgendem Sinne zu sprechen: Das angebotene Material besteht aus der Mobilisierung einer Umwelt zu akustischer Wahrnehmung. Der Hörer sollte angeregt werden, seine jeweilige soziale Umgebung akustisch zu aktualisieren. Er sollte also versuchen, sich in seinem Wohnzimmer, in dem er sitzt und zuhört, akustisch wahrnehmbar zu machen. Dabei sollte er auf die eindeutigen Formen solcher Aktualisierung verzichten, als da üblich sind: Hilferufe oder Schimpfkanonaden usw. Da diese Formen so eindeutig sind, sind sie den meisten Menschen zu vertraut, als daß sie sie noch als eindeutig wahrnehmbare empfinden. Die bloße akustische Signalisierung einer Umweltgegebenheit im Hilferuf etwa ist redundant geworden, weshalb sie ihren ursprünglichen Sinn kaum noch erfüllt. Wer an einem Badestrand solchen Hilferufen konfrontiert war, kann bestätigen, daß er kaum noch ihre Ernsthaftigkeit verspürte. Wenn aber einer der Hörer oder gar viele von ihnen zur akustischen Mobilisierung ihrer augenblicklichen Umwelt übergehen, wenn aber Hörer im Zimmer anfangen, Gläser gegeneinander zu schlagen oder Möbel umzuwerfen oder mit dem Fuß aufzustampfen oder Geschirr gegen die Wand zu werfen, dann sollten sie bedenken, daß wir keine Möglichkeit haben, jedenfalls augenblicklich noch nicht, diese ihre Tathandlungen ins Studio zu übertragen, von wo aus wir sie alle kontrollieren könnten, was eigentlich notwendig wäre, damit die von Hörern akustisch aktualisierte Umwelt als Hörraum reproduzierbar würde. Dann könnten nämlich die von Hörern hergestellten Hörräume von Dritten, von Adressaten, so benutzt werden, wie sie gemeint sind: als präzise Angabe oder Analyse der jeweiligen sozialen Umgebung von Menschen.
Fürs erste gilt: die Wahrnehmung komplexer sozialer Umgebungen in ihren Bedingungen und die Fähigkeit, sie auszudrücken, ist bei uns verkümmert zur unbestimmten sprachlichen Kommunikation. Bekundungen der augenblicklichen Situationsgebundenheit oder Umweltbestimmtheit, wie sie einstmals als Rülpsen oder Furzen oder Schniefen unser Repertoire bestimmten, sind sozialer Ächtung verfallen. Andere sind klassenspezifisch geworden, können also nur von den Angehörigen bestimmter Gesellschaftsgruppen noch benutzt werden. Die produzierten Hörräume müssen auf diesen Tatbestand immer wieder verweisen, damit sie überhaupt nutzbar sein können. So wird aber auch umgekehrt trennscharf die soziale Lage Handelnder erkennbar, wenn sich Handeln akustisch wahrnehmbar macht. Beispielsweise bei der akustischen Wahrnehmung von Handeln in Schlafzimmern. Jedermann dürfte erfahren haben, wie sein Handeln durch akustische Wahrnehmung produzierende Hotelbettmatratzen bestimmt werden kann.
Wenn also Hörer, dies im Sinn, sich bisher außerstande sehen, dem Angebot auf akustische Aktualisierung der augenblicklichen Umgebungen nachzukommen, dann 'könnten sie doch diesen Hinweis als Trainingsanleitung benutzen und verstehen.
Das Training der Fähigkeit, sich in seiner jeweiligen sozialen Umgebung akustisch wahrnehmbar zu machen, beginnt mit Grundgeräuschen, die sich zu einem Hörraum erweitern.

2.3 Grundgeräusche und ein Hörraum (das Hörspiel)

Sprecher:
Wir sind starke Charaktere, geschult in selektiver Wahrnehmung

Stimmen:
Guten, Excellenz, Morgen, Morgen
Mein Herr!
No Sir.
Darf ich mir erlauben ...
Mein Führer
Herr Minister lassen bitten.

Der Ausdruck der Stimmen muß den in den Anreden bedeuteten Umgebungen der Angeredeten möglichst genau entsprechen. Die akustisch wahrnehmbaren Äußerungsformen dieser Umgebungen werden getrennt wiedergegeben. Striktes Nacheinander, ohne Übergänge.
Geräusche und Stimmen, die von den obigen unterschieden sein müssen:

1) Vornehme Stille eines herrschaftlichen Gemachs, dezentes Räuspern und Flüstern in der Art von Anweisungen an einen Diener: "Johann, bitte nicht jetzt!"
2) Hotelhalle, der Portier öffnet für den Gast eine Tür, der Gast tritt an den Empfangstisch, setzt Koffer ab: "Bitte, den Schlüssel für Zimmer 34."
3) Richtertisch, Gerichtssaal, Publikumsreaktion geht in die Stille der Erwartung über, bei den Worten: "Das Gericht."
4) Vornehmer Puff, Damen heiter, aber dezent, kleine Angebote, Lockrufe, Vertraulichkeiten. Die Puffmutter führt den Gast umher, um ihm Empfehlungen zu machen: "Unser Fräulein Lotte, sie ist erst zwei Tage bei uns. Bestimmt sehr charmant."
5) Versammlung der Volksgenossen auf einem Reichsfeld oder Marktplatz, Aufzug der militärischen Formationen mit entsprechenden Kommandos. Vortreten eines meldenden Offiziers. Zur Vereindeutlichung der Situation vielleicht im Hintergrund Stimme eines Radioreporters.
6) Vorzimmer eines Ministers, Schreibmaschinen und Diktat. Beherrschende Aktivität der Vorzimmerdame: "Ja, bitte?"

Sprecher:
Wir sind starke Charaktere,
geschult in selektischer Wahrnehmung,
einer Gefahr geschickt ausweichend,
auf einen Pfiff hin zur Stelle,
vor Aufregung um den Verstand gebracht,
aus den Augen, schon auch aus dem Sinn.

Geräusche:
Ein Pfiff
Eine Glocke schlägt an
Ein Hund stürzt sich aufs Futter (wie in Werbesendung für 'Schappi')
Ein Pfiff ertönt
Eine Glocke schlägt an
Ein Hund stürzt sich aufs Futter.

Sprecher:
Eine Pfiffe ertönt.
Eine Glocke schlägt an.

Geräusche:
Eine Hausfrauenmeute stürzt sich ins Kaufhaus (wie Berichterstattung über Winterschluß-Verkauf-Eröffnung)
Ein Pfiff ertönt,
eine Glocke schlägt an,
eine Salve kracht.
Ein Pfiff ertönt.
Eine Glocke schlägt an.
Ein Auto stoppt mit quietschenden Reifen.
Eine Glocke schlägt an.
Kinder rennen auf den Schulhof.

Sprecher:
Ich schlage den Herren vor, die Versuchsbedingungen ein wenig abzuändern. Wenn wir den Käfig verdunkeln, kompliziert sich die Arbeit entschieden. Ich wäre gespannt zu erfahren, wie diese Komplikation das Versuchsresultat beeinflußt.

Geräusche:
Rutschen von Kisten, dabei vor Anstrengung stöhnende Arbeiter

Sprecher:
Jetzt, los, auf drei

Die ersten Anreden und die dazugehörigen akustischen Umgebungsmerkmale werden jetzt miteinander in richtiger Weise wiedergegeben. Dann werden die Anreden und Umgebungssignale mehrfach vertauscht oder auch Phasen vorgeschoben, also: zum Geräusch Reichsfeld die Stimme "Mein Herr", zum akustischen Umgebungssignal "Puff" die Stimme "Herr Minister", usw ...
Für den folgenden Text hat der Sprecher die Übergänge von Satz zu Satz durch jeweils veränderten sprachlichen Ausdruck zu produzieren, zum Beispiel mahnend, verwirrt, rabaukisch usw.

Sprecher:
Mir fehlen die Worte,
Also ich weiß gar nicht, was ich sagen soll,
Mensch, das is'n Ding, Donnerwetter,
Um Gottes willen,
Was? Das kann doch nicht wahr sein,
Ich bin platt,
Wieso das?

Die Sprecher benutzen die Phrasen, um sich über das zu verständigen, was sie nicht sagen, also so, als ob dem jeweiligen Ausdruck eine lange Erzählung voranginge oder ein Ereignis oder ein Bericht, oder als ob sie jemanden auffordern wollen, sich zu dem Ereignis, Bericht oder zu der Erzählung zu äußern.
Dabei werden die wiederholten Redewendungen immer weiter verstümmelt, bis sich über verschiedene Zwischenformen nur noch Ausdrucksformen wie "nee, nee, nee" und "jaja, jaja" ergeben.
"Nee, nee, nee" und "ja, ja, ja" werden fünf Minuten mit unterschiedlichen Modulationen und Ausdruckswerten der Stimmen wiedergegeben. Grundmuster: Alte Leute sinnen über einen Tatbestand nach, auf den sie immer wieder zurückkommen, obgleich ihr Verstehen dadurch nicht größer wird.

Sprecher:
Doch, doch,
Immerhin.
Na also, ich glaub, der hat das geschluckt,
jetzt hat er es intus,
der hats kapiert,
fertig und der Nächste bitte. Verstanden!

Wiederum werden zu den hintergrundslosen verbalen Äußerungen irgend welche akustischen Hintergrundbestimmungen mitgeliefert. Erst die Ergänzung des Hörers stellt den Zusammenhang zwischen Text und akustischen Umweltsäußerungen zusammen, so daß sie für den Hörer sinnvoll werden.

Sprecher:
Glaubst du wirklich, daß wir damit durchkommen.
Und wenns nichts wird, sitzen wir da.
Hast du dir mal überlegt, was dann werden soll?
Doch, doch. Immerhin haben wir uns nichts vorzuwerfen.

Die beiden rennen los, springen auf, werfen sich auf den Boden, arbeiten sich durchs Gebüsch vor. Plötzlich ein vergeblich unterdrückter Aufschrei. Hundebellen, Geschosse

Stimmen:
Halt, Stehenbleiben!

Sprecher:
Du hast dem aber Bescheid gegeben, Menschenskinder. Manchmal hilf1 eben nur Eindeutigkeit, Rangehen. Ob wir mit dem noch rechnen können? Immerhin war er ziemlich kleinlaut geworden. Na also, ich glaub, der hat das geschluckt. Jetzt mach ich fuffzehn, schieb mal Kaffee her.

Dialog Sprecher - Sprecherin:
Tach, Frauchen, wann gibts Essen?
Aber Häschen, ich habe bis eben mit Hansi Schularbeiten gemacht.
Ich bin ganz schlapp, Du.
Wenigstens hat er es jetzt intus.

Töpfe fallen vom Bord, Scheiben klirren.

Du meine Güte, ich hab das Fenster in der Küche offengelassen. Schnell.
Dein Freund Karl weiß, wie man's machen muß, der hats kapiert. Von dem könntest du dir ruhig mal ne Scheibe abschneiden. Immer dies Getue, daß man nicht dies und nicht das tun dürfe, daß man anständig bleiben müsse. Geh mir doch zum Teufel mit deiner Anständigkeit. Wo bist du denn damit hingekommen. Aber der Karl, der ist dabei, sich ganz groß rauszubringen, der hats kapiert, wie mans machen muß.
Knallt den Telefonhörer auf und die Tür zu. Atem und 'A'-Sagen, Klopfen auf den Brustkorb.

Sprecher:
Obere Bauchhöhle stark Luft, sonst ohne Befund. Fertig, der Nächste bitte.

Sprecherin:
Verstanden.

Sprecherin:
Weißt du noch, wie wir damals, oder war es noch früher, die flachen Steine gefunden haben. Ich hab dich jedes Mal geschlagen, du warst vielleicht wütend. Och komm, sei nicht nachtragend, hat doch Spaß gemacht. Oder?

Der letzte Satz muß sehr exaltiert gesprochen werden, überdeutlich, reich im Stimmausdruck, vielfache Modulationen im Sprachfluß. Denn die gleiche Sprachkurve wird nun mit dem akustischen Material 'Meeresrauschen' nachgebaut. So als ob die Erzählung direkt in den abgehandelten Sachverhalt überginge, in das Ereignis.
Durch Filter und Blenden und Schneiden sollte so dem Ausdruck gegeben werden, was in Schlagern als "das Meer erzählt dir ein Geheimnis von weit her" angedeutet wird. Während der Sequenz ist aber nichts anderes zu hören als Meeresrauschen.

Es folgen weitere Vereinzelungen als Geräusche.

Geräusche:
Fliegen oder Flugversuche eines oder mehrerer Vögel.
Schreie dieser Vögel (ohne Fluggeräusche und Flügelschlag).
Geräusch einer stark mahlenden Schiffsschraube.
Pfeifen eines Dampfers.
Langsam anschwellender Sturm.

Jetzt werden die vereinzelten Formen zum Bild 'Abendfriede am Meer' zusammengesetzt.

Geräusche:
Die Wellen branden sacht und dann stärker.
Ein Vogel schreit, ein Dampfer fährt und tutet.
Vögel kreisen am Himmel.

Sprecher:
Was man nicht hören kann, davon soll man sprechen.
Es ist Abendfriede am Meer. Der jugendliche Feriengast Hans K. aus Hannover sieht die Abendsonne untergehen.

Sprecher Hans K. aus Hannover:
Die Sonne geht unter, verdammt.

Sprecher:
Der Abendwind frischt leicht auf. Vom Land her. Das war die Stunde.
Von dort kamen die Friesen herangezogen, vielmehr sie flohen - die Oldenburger ihnen auf den Fersen. Na, und nun liegen sie hier, Männer und Knaben. 1356 Mann. Lebensende, Landende. Diesen Berg haben die Weiber aufgeschüttet mit bloßen Händen.

Die nachfolgenden Erzählungen müssen mit dem Ausdrucks-Gestus eines Erzählers oder Reporters gesprochen werden, kulminierend in der Bezeichnung des Augenblicks höchster Bestimmtheit wie "Plötzlich", "Gerade", "Als, da ... ", "Im selben Augenblick".

Das Abbrechen der Erzählung im Kulminationspunkt muß so deutlich sein, daß der Hörer unmittelbar assoziativ ergänzt, was er eben nicht hört. Die Ergänzungen sind ihm möglich, weil die sprachlichen Zeitformen und Zeigegesten allenthalben beim Erzählen solcher Geschichten angewandt werden.

Sprecher:
Während der Orkan tobte und die Männer des Seenotrettungskreuzers 'OIe Düvel' die Boote klar machten, hörten die Matrosen auf dem gestrandeten 'Berghalsen ' plötzlich ...

Sprecher:
Es war gegen Abend, so um die sieben rum. Ik hai all eten, ich wet dat noch wi hüt, min Fru haI mi en Oal mokt - den et ik nämlich to geern, weten se, dat ist kumisch mit de minsche, wat se sik so maken dot, dat is meis sowat komisches, nu bi dat grode Ereignis. Wi heb dat jo niemoln vogeten, wel dat uns Leben tohob smeten het. Min Fru sech hüt no, dat wi dat woll jümmers bi uns holn warn, dat wer uk to schrecklich, wetense, ick men mah dat möt se veston: ik stun hia, do wern de Lüt und ropen man immerto: "Kommen Sie schnell, kommen Sie schnell." Jo, dat wer nu lichter segt als uk don. Mit en mol ...

Sprecher:
Während die Maschine noch kreiste, offensichtlich wollte der Pilot hier landen, denn er kam immer wieder im Tiefflug dicht über den Sand geflogen, während also die Maschine kreiste ...

Sprecher:
Um Gottes willen, bleiben Sie stehen, rief der Wachtmeister, kommen Sie doch zurück, aber die Frau hörte ihn wohl nicht mehr. Jedenfalls wollte der Wachtmeister gerade losrennen, da passierte es auch schon ...

Sprecher:
Alles war friedlich, wir hatten unsere Runde beendet und saßen am Tisch, um uns noch einen Kleinen zu genehmigen. Meine Frau und Jochen wollten eben die Gläser noch einmal nachschenken, als ...

Unterschiedliche Sprecher:
Während der Mittagspause ...
Während der Meister gerade die Schlüssel abgab ...
Während gestern alles normal blieb …
Während der vergangenen Monate …
In dem Augenblick, als der Polizist an den Wagen trat ...
In dem Augenblick, als gerade die Kreuzung freigegeben wurde ...
In dem Augenblick, als ich hier um die Ecke kam ...
In dem Augenblick, als die Brückengeländer durchbogen ...
In dem Augenblick, als die Weiche umsprang ...
In dem Augenblick, als der Flüchtende hinter dem Berg verschwand ...
In dem Augenblick, als die verhältnismäßig ruhigen Wellen gegen das Boot klatschten ...
Es war gerade fünf Uhr, als ...
Es war gerade der Zug nach Hamburg durchgekommen, als ...
Es war eben gerade noch einmal gutgegangen, dachten wir, doch dann ...
Er hatte schon seinen Mantel übergezogen und sich zur Flurtür begeben …
Er wollte fortgehen. Doch dann ...
Die Blöcke standen schon aufgeschichtet da. Mit einem mal ...

Der Schalterbeamte hatte sich soeben über seinen Arbeitstisch zurückgebeugt. Deshalb mußte ich etwas lauter rufen. Aber dann hat er sich mit der Erledigung des Passes so beeilt, daß ich meinen Zug doch noch bekommen habe.

Wer weiß, ob nicht alles ganz anders gekommen wäre, wenn ich mich nur einen Augenblick schneller entschieden hätte. Aber man soll nicht immer den verpaßten Möglichkeiten nachtrauern. Die wird es immer geben.

In dem Augenblick, als ich mich umdrehte, spürte ich einen metallenen Gegenstand kalt an meinem Oberarm. Ich schrie auf. Das habt ihr ja wohl gehört. Ich verstehe nicht, warum ihr immer die Schranktüren offenstehen lassen müßt. Eines Tages wird sich einer vom Schreck nicht mehr erholen.

Eines Tages wird hier alles anders sein, denn ...
Eines Tages versuchten die Ingenieure, den Filter durch einen Seidenstrumpf zu ersetzen, denn ...
Eines Tages, ja, ich weiß es gewiß, und niemand wird mir diese Gewißheit rauben, kommt ...
Eines Tages im vergangenen Oktober schrieb mir der Redakteur Häusler einen Brief, den damals ...
Damals war mir noch nicht klar, was das für Folgen haben könnte, weil ...
Damals wollte er wirklich nur den Korb anheben …
Damals sagten die Leute, es ist besser so, sonst …

Geräusche endloser rollender Güterzüge, schlagende Fenster, Wind im Gebüsch. Ein Stein fällt den Berghang hinunter. Ein Schloß schnappt zu. Ein Signal rastet ein. Räder rollen einen Sandweg entlang.

Sprecher:
Sagt was über die metaphysischen Örter:
Die Kreuzung
Der Bahndamm
Das Fenster
Der Hohlweg
Der Forst
Der Höhenzug
Die Senke
Das Tal
Der Gipfel
Die Fährte
Das Gebüsch
Der Abgrund
Die Spur
Das Signal
Der Graben
Die Erhebung
Die Landzunge

Sagt was über die metaphysischen Tätigkeiten:
Ankommen
Sich verabschieden
Zum letzten Mal zurückblicken
Einen Brief schreiben
Das Licht löschen
Das Hindernis aus dem Weg räumen
Die Stimme ersterben lassen
Vor Rührung schluchzen
Vergeblich Schlange stehen

Sprecher:
Da, sieh mal da, hör mal, und da, dort, sieh, horch, da, dort sieh mal,
sieh nur, guck, da, da, hier und da
sieh mal, hier, sieh, da, guck da dort hier, sieh mal
und dies hier, oh, sieh mal, dies und wie das da rumgeht, und diese Linie hier, sieh doch bloß mal, wie der das gemacht hat.

Die Guck-mal-da·Phase muß mit so unterschiedlichen Ausdrucksebenen belegt werden, daß jederzeit die Ziele der Zeigeaktion erscheinen könnten, aber dann doch immer wieder andere sind.

Wieder Meeresrauschen wie in Abendfrieden.

Sprecher als Arzt:
Da komm ich leider zu spät. Wie ist denn das passiert?

Sprecher als weinende Hausfrau:
Wie konntest du nur zulassen, daß er so spät noch auf die Straße ging!

Sprecher als von seinem Auto im Stich gelassener Fahrer:
Warum habe ich bloß dieses Miststück gekauft?

Sprecher als an seinem Schicksal zerschlagener Postschaffner:
Warum muß das immer mir passieren, jedesmal mir, immer ich, bei den andern kommt das nie vor, schon wieder geht alles auf meine Kappe, warum muß ich immer solche Idioten betreuen?

Geräusche: alle Sequenzen werden ineinander überführt, gegeneinander gebrochen, voneinander übertönt
Geräusch eines fahrenden Autos, Zusammenprall
Geräusch eines Zähneputzers, der sich beim Gurgeln verschluckt

Sprecher:
Pfui Deibel

Geräusche:
Geräusch eines schön gesungenen Liedes, dessen Sänger plötzlich sich im Ton vergreift.
Geräusch von Klopfen an eine Tür, nachhaltig und wiederholt, das in gewaltsames Aufbrechen der Tür übergeht.
Geräusch von Hühnern im Hof, die gackern und scharren, Eindringen eines Bauern in den Hof, um eines der Hühner zu fangen, Schreien der Hühner und erregtes Gackern. Niedersausen der Axt auf den Hühnerhals.

Sprecher Kinderstimme:
Guck mal, der läuft ohne Kopf, was ist denn das, Mensch du, das ist ja toll, Pappa. Mach nochmal!

Geräusch:
Wohnstube mit spielendem Kind. Sich näherndes und langsam vorbeifahrendes Auto.

Sprecher Kinderstimme:
Das is'n Mercedes.

Geräusch:
Sich näherndes vorbeifahrendes Auto.

Sprecher Kinderstimme:
Das is'n Porsche.

Geräusch wie oben, modifiziert

Sprecher Kinderstimme:
Das is ein, ein, Thunderbird

Geräusche wie oben, modifiziert

Sprecher Kinderstimme:
das war‘n Vauweh.

Geräusche wie oben, modifiziert

Sprecher Kinderstimme:
Das war'n, du was war'n das, hör mal, kennste das. das is'n, das war'n, jetzt ist es vorbei, schade, vielleicht kommt der nochmal.

Geräusche:
Hotelzimmer erster Klasse, ein Paar auf dem Weg ins Bett.
Sehr zurückhaltende Äußerungen von Tätigkeiten. Knistern von Seiden, Rüschen, dezentes Nasenschneuzen, Höflichkeitsbezeugungen.

Sprecherin:
Du.

Geräusche:
Arbeiterschlafzimmer. Er zieht polternd die Stiefel aus, Gähnen und Murren.

Sprecherin:
Mußt du die Stiefel immer so rumschmeißen?

Sprecher:
Wenn ich müde bin, kann ich doch nichts für.

Sprecherin:
Wasch dir aber ja die Füße, sonst kommst du mir nicht ins Bett, ich habe heute gerade neu aufgezogen. Und vergiß nicht wieder, dir die Zähne zu putzen, bei deinem Priem, is ja widerlich, das Gesabbere -

Sprecher:
Du hab dir man nich so, bist ja meine Kleine, du

Sprecherin:
Laß mich los, Mensch, ich war heute grade beim Frisör, kannst wohl nicht kucken?

Geräusche:
Großbürgerwohnung, vor sich hinsummendes Dienstmädchen,
Staubsauger in Tätigkeit.

Sprecher:
Fräulein Gerda, darf ich Sie einmal so nennen, Gerda, sind Sie aber munter. Kommen Sie mal her zu mir, na, kommen Sie schon, wissen Sie, vor mir brauchen Sie doch keine Angst zu haben, meine Frau ist schon lange im Park an der schönen Luft. Da, oh, das ist etwas Wunderbares, so, sehen Sie mal, ist das nicht schön?

Sprecherin:
Aber Herr Horstmann, ich bin doch gerade erst mit Bettenmachen fertiggeworden.

Sprecher dozierend:
Ja, meine Herren, wenn Sie auch einmal in eine solche Situation kommen, rufen Sie um Gottes willen nicht Hilfe. Ich weiß, Sie wollen Hilfe rufen, weil Sie Hilfe brauchen. Aber Sie dürfen auf keinen Fall Hilfe rufen, weil dann nämlich niemand kommt. Wenn Sie Hilfe brauchen, aber nicht Hilfe rufen können, weil dann niemand kommt, dann müssen Sie etwas anderes rufen als Hilfe, denn bei Hilfe kommt niemand, denn jeder denkt, der ruft nur Hilfe, wie man halt so hallo ruft, wie man sich eben etwas zuruft. Ja, aber was ruft man denn nun, wenn man Hilfe nicht rufen kann, obwohl man Hilfe braucht? Man muß etwas anderes rufen, wenn man aber etwas anderes ruft, dann weiß doch niemand, daß man nicht dieses will, sondern Hilfe braucht. Dann darf man offensichtlich überhaupt nichts Bestimmtes rufen, keine Worte für etwas. Man muß sich bemerkbar machen, ja, darauf kommt es an.

Sprecherin in einem Partygewimmel:
Hallo Schätzchen, Liebling, hier, hallo, hier bin ich, komm nur, siehst du mich denn nicht? Helfen Sie mir doch, mein Mann will mich nicht bemerken!

Geräusche:
Eingeschlossener in einem Raum, scheint seiner Handlungsfreiheit beraubt, versucht sich bemerkbar zu machen wie im Agentenfilm, offensichtlich geknebelt.

Geräusche:
Eingeschlossener in einem Fahrstuhl, trommelt an die Seitenwände, springt lärmend auf den Fußboden, stöhnt, schreit, flucht.

Sprecher in dem Fahrstuhl:
Moment mal, ich habe ja vergessen, auf den Knopf zu drücken.

Geräusche:
Eingesperrter in einem Beruhigungsraum eines Sanatoriums schlägt auf die ledergepolsterten Wände. Klatschen der nackten Hände auf das Material.

Sprecherin:
Herr Doktor, Herr Doktor, die Psychose ist akut.

Sprecher:
Schwester, das ist der Hausmeister, der für die Schwergewichtsmeisterschaft übt!

Sprecher:
Und eine entzückende Geschichte: Locken im falschen Haar. Er kam zum Frisörladen herein und: Donnerwetter, was war denn das für eine Dame unter der Haube? Er greift zu und da wars ihr Hinterstes hinten und vorne Haare.

Sprecher (kichert, hat es schwer, sich zu normalisieren. Schmalatmig, giggelnd, prustend):
Es stellt sich die Frage, ob ein Menschenaffe mit seiner Angewohnheit, durchs Dickicht zu hangeln, sich überhaupt auf einem weißen Menschenkörper aufrecht halten kann. Nein, ich glaube die Sache nicht oder vorausgesetzt: sie vergrößert, er verkleinert, mit dem Zwischenergebnis, daß die Warzen der Brust sich versteifen und weit vorstehen. Der Affe schwingt sich von Brust zu Brust, die Warzen wie Spinte seitlich in die Fäuste gewunden.

Geräusche:
Affengezeter, Urwaldgeräusch, Urwald, Tarzans Kehl- und Schwell-Laute von weit her, Schlagen der Hand auf den Mund.

Sprecher:
Man sollte auch wissenschaftliche Berichte nicht auf jeden Fall glauben.

Sprecher:
Wir sind starke Charaktere, geschult in selektiver Wahrnehmung mit der unvermeidlichen Progression unserer Treue zum Betrieb: Steiff Knopf im Ohr, Steiff Finger in der Nase, Steiff Schwänzchen im Bauch, Steiff Leiche im Sarg.

Musik wie sie als Hintergrunds- und Motivationsbestimmung in Hollywoodfilmen gebraucht wird.
Kurzes Anspielen, wie zuvor bei den Sequenzen 'während plötzlich, als ... '

Steigerungen, die Höhepunkte anzeigen: tragisch oder versöhnlich, Gefahr droht - es wird angegriffen - die Befreiung naht ... usw., usw.

Beispiel:
Musik zum Begräbnis, zum Tanz, zum Gebet, zum letzten Wort des Sterbenden, zum Verstehen auf den ersten Blick, zum letzten Gefecht (aus Filmen wie High Noon, 2001, Viva Zapata, Königin Christine, Schwarzwaldmädel, Blondinen bevorzugt usw.).

Sprecher:
Musik zum Lernen, zum Vergessen, Musik, Musik.

Geräusche:
Wiederholung der Sequenzen 'Eingeschlossene ... ', die jetzt mit den obigen Musikzitaten direkt und gegenläufig unterlegt werden.

Sprecher leichthin und ohne Betonung der Aussage:
Man könnte meinen, die Musik biete bisher die stärkste Möglichkeit, einen konkreten Zusammenhang zwischen den Bestandteilen unserer sozialen Umgebung herzustellen. Man könnte meinen, die Musik lasse uns am besten die Kontinuität von Handlungsweisen erreichen, indem sie durchgängig fehlende Hintergrundsbestimmung bietet, indem sie durchgängig gefährdete Handlungsmotivation symbolisiert. Es ist bezeichnend, daß seit zwei Jahrhunderten die Zielausrichtung von gesellschaftlichen Großgruppen durch Musik betrieben wird: ihr manifester Ausdruck sind die Nationalhymnen. Wo das Leben zu Scherben zerfällt, wo es weder vorwärts noch rückwärts geht, wo es keine allen zukommenden Bestimmungen gibt, dort spielt die Musik.

Sprecher:
Der jugendliche Feriengast Hans K. aus Hannover hatte ein Tonbandgerät vor sich, dessen Mikro er sich um den Hals geknüpft hatte. Ein Plattenspieler stand neben dem Bett. Als man das Band abhörte, wurde klar, warum Hans K. den Plattenspieler benutzte. Die Musik war so laut, daß niemand in der Nachbarschaft seine Schmerzensschreie hören konnte. Der Todeskampf dürfte dem Band zufolge sechs Minuten gedauert haben.

Musik:
Single 4,5 Minuten: Prophets, Seers and Sages, die offensichtlich andere Geräusche überdeckt. Diese Geräusche werden identifizierbar, als akustische Zeichen des Todeskampfes von Herrn K., die noch 1,5 Minuten als Schmerzensschreie, Röcheln, Umsichschlagen, Klopfen, Werfen, Schieben, Zerreißen, Trommeln zu hören sind. Die Geräusche scheinen mehrmals aufzuhören, es entstehen Pausen. Die Geräusche werden immer abstrakter, immer komponierter, sie werden schwächer, bis nur noch das rhythmische Schabegeräusch des Tonarms auf der ausgelaufenen Schallplatte zu hören ist.

Der Hörraum 'Sterben des Hans K. aus Hannover' wird wiederholt, nunmehr aber zusammen mit seiner Vorgeschichte, die hier als allgemeine gegeben wurde. Der Sprecher des Hans K. als unverwechselbar eindeutige und stets identifizierbare Stimme geht exemplarische Stationen des analytischen Teils, des ersten Teils durch: Hans K. beim Arzt, im Bordell, als Zeuge eines Flugzeugabsturzes. Hans K. imitiert Vogelflug und Vogelstimmen, er erzeugt Geräusche vorbeifahrender Autos usw. Er memoriert seine Geschichte in untersprachlichem Ausdrucksmaterial durch das, was er mit seinen Händen, seinem Mund, seinen Fortbewegungswerkzeugen, seinen Tascheninhalten usw. akustisch ausdrücken kann.
Übergang dieser Artikulationsläufe in die Sterbegeräusche, die, wenn sie unerträglich zugenommen haben, brutal von der Musik 'Prophets ... ' überdeckt und abgetötet werden,
In die Musik hinein spricht der Autor. Während er spricht, ist er offensichtlich den Annäherungsversuchen eines Mädchens ausgesetzt. Das Mädchen begleitet die Äußerungen des Autors zunächst spöttisch, dann ungeduldig, dann fordernd, dann ihn usurpierend mit den Ausdrucksgesten von Mannequins, die in Werbesendungen für Men oder eine Aftershavelotion zu hören sind. Das Mädchen aht und oht und hucht und stöhnt und schnarrt. Der Autor willfährt ihr schließlich, indem auch er diesen Ausdrucksmodus annimmt.

siehe auch: